"Als wäre man dort daheim" - die ewige Fahrt
Deutschsprachige Lyrikerinnen der Gegenwart:
Sarah Kirsch und Gisela Hemau

Schwierige Bestandsaufnahme

Ingeborg Bachmann beginnt ihre Poetik-Vorlesung an der Frankfurter Universität, die im Rahmen der damals gerade neu eingerichteten und mittlerweile berühmten Poetik-Dozentur im Wintersemester 1959/60 gehalten wurde und den Behelfs-Titel "Über Gedichte" trägt, mit dem Eingeständnis, daß es nichts "Einschüchternderes" für den, der wie sie selber Gedichte schreibe, gebe, als "über die zeitgenössische Lyrik Rede und Antwort zu stehen." Sie begründet diese respektvolle Scheu nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, mit der Unübersichtlichkeit des Gegenstandsbereiches selbst, sondern mit einer "uns alle" betreffenden "Blicktrübung für die Gegenwart" dessen, was auf dem dichterischen Markt mit seinen unzähligen Winkeln und Nischen angeboten wird und darüber hinaus im Schwange ist.

Demjenigen, der heute durch die Landschaft des deutschsprachigen Poesiebetriebs wandelt - sei er nun selbst Gedichteschreiber oder nicht -, geht es nicht anders als Ingeborg Bachmann. Allein die Zahl der lyrischen Hervorbringungen im deutschsprachigen Raum ist schwer zu überschauen. Selbst wenn es - wie hier - ausschließlich um deutschsprachige Lyrikerinnen geht, ist das Angebot irritierend. Die von Gervinus schon im letzten Jahrhundert bejammerte "Vielschreiberei der Deutschen" gilt auch für das Geschäft der gegenwärtigen Gedichtschreibungszunft. Dabei stellt nicht nur die Masse, sondern auch die Klasse des Angebotenen das vermutlich eher armselige Häuflein der Gedichteleser vor nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten - vor allem dann, wenn es darum gehen soll, das Unüberschaubare durch das Zeichnen von Linien und Strömungsverläufen überschaubarer zu machen. Noch schwieriger wird es, wenn die guten Gedichte -- die es gibt! -- ins Töpfchen, die schlechten -- die es auch gibt -- ins Kröpfchen sollen. Niemand sollte sich nämlich Illusionen machen, wenn es um die Treffsicherheit seines ästhetischen Urteils geht. Wir alle wissen: Die "Wertschätzung" eines Gedichts, das man endlich wie eine geheime, an uns gerichtete Flaschenpostbotschaft aus dem Ozean gefischt hat, unterliegt nicht nur seiner jeweils immanenten ästhetischen Qualität, sondern insbesondere auch subjektiven Sichtweisen, Neigungen und dem Grad möglicher Identifikationen beim Leser.

Zwei Lyrikerinnen von erheblicher Qualität sollen uns im folgenden interessieren. Beide, Vorkriegsgeborene, setzen je auf ihre Weise Sprungmarken für die Möglichkeiten lyrischen Sprechens unserer Tage. Die eine hat schon ein breites Publikum, die andere hätte es längst verdient. Die erste, Sarah Kirsch, ist ohne Zweifel eine der bekanntesten und gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen der Gegenwart. Die zweite, Gisela Hemau, ist bisher nur einem kleinen Kreis vertraut; ihr schmales Werk zeichnet eine unerhörte Eindringlichkeit und Schönheit aus, die es erst noch richtig zu entdecken gilt.

Sarah Kirsch - Techtemechtel auf unsichtbarem Boden

Sarah Kirschs Gedichte wurden einmal als "trotzige Elegien bezeichnet, gestaltet in einer Sprache von "spröder Intensität", eher fern des allzu harmonischen Flusses "schöner" Verse. Statt dessen bevorzuge sie ein stockendes, lakonisches Sprechen von "gelegentlich störrischer Eigenwilligkeit".

Auch ihr zuletzt veröffentlichter Gedichtband "Erlkönigs Tochter" ist, wie Iris Radisch jüngst in der ZEIT schrieb, frei von der "leeren Reinheit der Hochleistungslyrik". Zumindest auf den ersten Blick bilden alltägliche Sujets wie Stürme, Pfützen, Motorpannen, Schafspisse, Berufssoldaten eine "natürliche Schmutzschicht" und bewahren die Gedichte immer wieder und beinahe schmerzhaft vor dem allzu fernen Klang und der stolzen Makellosigkeit, die aus elfenbeinernen Gehäusen kommt. Dabei ist "Erlkönigs Tochter" selbst ein fernes, ein märchenhaftes Wesen, das aber in seinem Status zwiespältig ist: In der dänischen mythologischen Überlieferung ist sie reine Schönheit, die verführt, und existentielle Gefahr, die zuerst moralisch, dann physisch zerstört, zugleich. "Erlkönigs Tochter bringt den Tod. Der abweisende Blick des Vaters sieht sie anders als der des sterbenden Sohns, er kann sie nicht erkennen, sie erscheinen ihm als "die alten Weiden so grau". Sarah Kirsch greift das naturlyrische Weidenmotiv Goethes auf, nur ist die Weide nicht mehr Symbol tödlicher Verführung und erotischer Phantasie, sondern ihre Hinfälligkeit zeigt sie selbst als Opfer, wenn es heißt: "Die Bruchweide jammert im Wind". Die Verhältnisse haben sich geändert und mit ihnen auch die die Wirklichkeit bestimmenden Kräfte. Die Erde ist unter den Händen der Menschen zu einem Ort großer Sorge geworden:

Ich sehe eine Erde die mir
Gar nicht gefällt Sommer
Vogellos Kühe
Milchlos Männer
Mutlos werde mich
Lieber! empfehlen

Das strukturierende Enjambement will auch auf der inhaltlichen Ebene die Einsicht erzwingen, daß alles mit allem zusammenhängt. Schwerpunkt bildet dabei das alliterierende "Milchlos Männer/ Mutlos". Das Triple-M verknüpft wie nebenbei und mit größter Leichtigkeit das Materielle (Milch, Körper) mit dem Ideellen (Mut, Wille), also Leib und Seele. Möglicherweise ist es erst die Gefahr des Untergangs und die Sorge darum, die die existentielle und globale Interdependenz in aller Schärfe sichtbar werden läßt. Die Wirklichkeit erscheint "Erlkönigs Tochter" als ein von Kälte und Nässe zerfressenes "Winterfeld", das die Fremdheit, Unbestimmtheit und die Vernichtungspotenz einer beinahe archaischen und anarchistischen "Wildnis" in sich trägt. Sie wehrt sich, ja, sie rächt sich am verkommenen "Krätzeplaneten dadurch, daß sie ihren Zorn aussät, die Aussaat zuvor aber gegen den abwehrenden Einfluß des kranken Erdenballs resistent macht:

Schneestürme Wolkenbrüche
Viel Niederschlag jetzt
Werwölfe fressen meinen
Durchlöcherten Schlaf letzte
Liebgehabte Farben ertränkt und
Zerrissen mein Ufer abstoßendes
Herz. Ausgesät hab ich
Zorn in recht feinem Samen
Vorher in Filzschafs
Pisse gebeizt gegen den
Einfluß des Krätzeplaneten
ZumErbarmen wenig geeignet
So ich in der
Wildnis bin.

Der stockend und durch grammatische Unvollständigeit vorgetragene Zorn auf den kranken Planeten beschwört Nietzsches Diktum von der unheilbaren Hautkrankheit der Erde, deren Name "Mensch" heiße, herauf. Nicht einmal mehr Erbarmen verdient der armselige Zustand, überall Kälte, Nässe, Erstarrung. Das Gewohnte ersoffen im Chaos des Neuen. Die Welt im Aufruhr im Angesicht einer zweifelhaften Zukunft. Das schiffbrüchige Herz, "zerrissen", ist nicht -- noch nicht? -- imstande die auftauchenden neuen Ufer zu betreten. Es stößt ab, mißtraut. Es gibt keinen Boden unter den Füßen, der wirklich trägt, und von dem das lyrische Ich sicher sein könnte, daß es sich nicht mehr, wie im Gedicht "Wach" ohne jede Scheu konstatiert, den "Buckel" über falsche Sicherheiten vollügt. Das Elend ist grenzenlos, es wohnt innen wie außen gleichermaßen.

Selbst die eigenen Wahrheiten haben sich in Unwahrheiten gewandelt, und der einstmals Orientierung versprechende Garten des Engels am "Weltenrand" ist leer:

Bevor ich meine
Eigenen Unwahrheiten
In Stein haue oder
In die gefrorene
Erde säe:

Dein Haus steht am
Weltrand ich gehe
Durch seinen leeren Garten.
Das Fenster brennt rot
Ich bin totenblaß wie
Gefallener Schnee.

Die Utopie bewahrheitet ihren sprachlichen Sinn. Es gibt keinen Ort der Wahrheit und damit auch kein Heim. Und dennoch, wie zum Trotz, wird die Lüge, werden die "Eigenen Unwahrheiten" in Stein gemeißelt werden. Das Haus des Engels brennt, was bleiben wird, ist "ausgeglühte Transzendenz" (Bloch), ist der Vorhof des Todes, sind die alle Bewegung erstarren lassende Kälte und das gleichförmige, überlagernde Weiß des Schnees. Der Tod als die absolute Bewegungslosigkeit, als Tempo Null überlagert zuletzt alles Schalten und Walten.

Sarah Kirschs neue Gedichte sind düster, ihre Botschaft skeptisch, die Ernüchterung gegenüber der Welt groß. Nicht mehr nur Klage spricht in ihnen, sondern auch Resignation. In "Seither" heißt es: "Bliebe eigentlich nichts als/ Schöne Augen zu/ Machen hier geht es/ Vorsätzlich Zahn um ...". "Schöne Augen" -- vielleicht die einzig übriggebliebene Verführungsgabe von "Erlkönigs Tochter". Gesiegt hat, so klingt es aus den Zeilen heraus, das Gesetz der Vergeltung, der Rache, des Zahn um Zahn, d.h. die Natur selbst in ihren dunklen Antrieben. Die den Menschen beherrschende Undurchschaubarkeit der Kräfte der Natur spielt in vielen dieser Gedichte eine Rolle. Trolle, Elfen, der Albatros, Meer und Sturm dringen in die Szenerie ein.

In "Ziel des Wegs" versucht Sarah Kirsch, den ultimativen Endpunkt alles irdischen Treibens mit wunderschöner poetischer Präzision ins Auge zu fassen:

Jetzt bedeckt uns von Blättern
Der Birke ein Meer viel Laub.
Wir warten auf eine Erscheinung.
Wir sammeln uns unter der
Beschwörenden Eiche starren
In die untergehende Sonne. Sanft
Erscheint uns Tod unser Herr.

Was ist zu tun? Gibt es gegen die Bewegungslosigkeit des Todes überhaupt noch einen Standpunkt, der eingenommen werden könnte, einen Standpunkt, der sich vielleicht auch lohnt? Lähmt sich das Leben vielleicht von seinem Ende her? In Sarah Kirschs "Erlkönigs Tochter" ist es das im geographischen Sinne verstandene Verlassen des Standpunkts selber, das Reise, die alte Metapher vom Weg, die in den Kampf gegen den Kältetod geschickt wird. Wem zu kalt ist und wer nicht erfrieren will, muß in Bewegung bleiben. Schon im letzten Haiku auf der ersten Seite des Bandes kommt dies zum Ausdruck:

Das Jahr geht hin
noch immer trage ich
Reisekleider.

Das lyrische Ich bleibt durch Bewegung vorerst am Leben. Aber es ist gestundete Zeit. Bewegung impliziert auch eine leise Hoffnung, doch noch einen Ort zu finden, an dem sich bleiben läßt. Immer wieder tauchen solche Orte auf ("Kapitulationen II": "In T. alles verkaufen und bleiben gleich/ Hier"). Dennoch stellt sich trotz aller Befreiung der "Geknechteten Seele" an solchen Orten und trotz aller Bewunderung und Sympathie für die "Überlebenskünstlerinnen und Künstler", die diese Orte bevölkern, kein Bleiben ein. Die Ufer werden vom zerrissenen Herz "abgestoßen". Die Fahrt geht weiter durch die Welt Nordeuropas, muß weiter gehen. Es ist die abweisende Welt des Eises und des kalten Lichtes, "Eisland". Die einzige Wärme ist die der Bewegung selbst. Und der warme Süden? Dessen Wärme ist unwirklich, ist Schein, nur noch Erinnerung. Sie kann, obwohl wir in "Café Majestic" erfahren, daß "ich recht glücklich" war, nur eine Episode bleiben.

Das drittletzte Gedicht des Bandes, wieder durch das beherrschende Enjambement verknüpft, trägt den Titel "Kalt". Hier wird die Sehnsucht nach einem Happyend, nach einem Ausbruch aus dem Unerträglichen und der Einkehr in etwas Helles spürbar. Aber genauso flüchtig, wie das lyrische Ich sich selbst ist ("Ich ging vor mir/ Auf und davon sprach/ Auf mich ein: ver-/ Giß! ..."), bleibt auch diese Sehnsucht nach Einkehr, Halt und Zusammenhang: "... Solltest nun/ Unter ein Dach gelangen verehrtes/ Herz. Sonst greint die Sehnsucht/ Ihren verlorenen Traum von der/ Schönheit der Welt die so/ Verkommen darnieder/ Liegt ..." Hier die überraschende Wende: Bewegung nährt nur die Illusion des Schönen, Einkehr ist Einkehr unter das Dach der Wirklichkeit zum Tode.

In "Watt III" legt die "Tochter des Erlkönigs" ein verzweifeltes Bekenntnis im Angesicht des Untergangs ab:

Ich Erlkönigs Tochter habe eine
Ernsthafte Verabredung mit zwei
Apokalyptischen Reitern im Watt ein
Techtelmechtel auf unsicherem Boden
Jetzt ehe der Morgen sich rötet.
... Und der Jung aus Büsum wird niemals

Gefunden es fallen die Krähen
Schwarze Äpfel vom einzigen Baum.

"Ernsthaft" wie das Treffen mit den Kündern der letzten Tage ist denn auch die aufkommende, beinah ausweglose, aber merkwürdig "tröstliche" Trostlosigkeit, über die im Gedicht "Sonntag" gesprochen wird. Am siebten Tage ruhte der Herr, heißt es in der Bibel, blickte auf seine Schöpfung und sah, dass alles gut war. Geläutert am Leben selbst schlägt bei Sarah Kirsch der göttliche Optimismus in irdische Resignation um:

Der Himmel wolkenbefahren an wenigen
Sonneninseln bleibe ich hängen ich höre
Den ganzen Tag Eric Clapton von meinen
Untertänigen Recordern so ist mir tröstlich
Trostlos zumute auf diesem verblichenen
Planeten ich könnte glatt einen gefüllten
Trommelsalutschußrevolver vergeuden an mir.



Gisela Hemau - Jetzt schläft der Ertrunkene, der seinen Tod nicht bemerkt hat, mit offenen Augen

Anders als bei Sarah Kirsch beziehen die Gedichte Gisela Hemaus ihre Intensität nicht aus der Sprödigkeit der Sprache als vielmehr aus einer faszinierenden, luziden Geschmeidigkeit im Umgang mit den Wörtern. Wirken Sarah Kirschs Zeilen und Verse manchmal wie flüchtig niedergeschrieben (zeitweilig bis hin zum Eindruck des Beliebigen) und erzeugen so den gewollten Eindruck des Bruchhaften, so erscheinen Gisela Hemaus meist kurze Gedichte demgegenüber wie von einer durchgehenden Notwendigkeit der erreichten Einheit von Sprachgestalt und Sujet getragen, ohne irgendeinen Anklang von Schwere und aufgesetzter pathetischer Unbeholfenheit. Hat man bei Sarah Kirsch -- insbesondere in "Erlkönigs Tochter" -- den Eindruck von absichtsvoller Lückenhaftigkeit (wie bei einem Maurer, der in seiner Wand mutwillig Lücken läßt), so haben Gisela Hemaus Verse etwas Glattes und Gläsernes. Es sind kleine Kunstwerke von erregender sprachlicher Präzision. Und dennoch sind sie gerade eben nicht Ausdruck jener leeren Reinheit formal-virtuoser Hochleistungslyrik oder einer monolithischen Abstraktion. Die Gefahr formal-perfekten Leerlaufs wird durch die Eindringlichkeit der verarbeiteten Daseinserfahrungen von Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe, von Freude, Melancholie, Trauer und Tod gebannt. Die Einheit von Form und Inhalt erreicht nahezu eine organisch gewachsene Qualität. Es ist gerade diese Rückführung des hohen Kunstausdrucks über die vielen Stufen seiner Verarbeitung hin zum Ausdruck von Natürlichkeit, von Finalität, die die Lyrik Gisela Hemaus kennzeichnet. Sie selbst spricht von den vielen "Schichten", die ein Gedicht hat, und von ihrem Bemühen, im Gedicht statt "gesuchter Zusammenhänge, natürliche Zusammenhänge" herzustellen, und zwar "zu Bedingungen der Sprache". Ohne Zweifel schwingt in ihren Gedichten eine romantische Vorstellung von Sprache mit in dem Sinne, daß es eine poetisch erfaßbare Urform für das jeweils zu Sagende gibt. Das heißt, die der "Kultur" poetischen Sprechens innewohnenden "Natur" aufzudecken, also solange am jeweiligen Werkstück zu arbeiten, bis sich dessen "eigentliche" Gestalt irreversibel zeigt. Der Magie der dabei entstehenden Bilder kann man sich nicht entziehen, man kann sie auch nicht kritisieren, denn hier wird ein Endzustand erreicht.

Bisher sind zwei Gedichtbände der in Bonn lebenden Lyrikerin veröffentlicht worden: "Mortefakt" (Nicolaiverlag) und "Gitter mit Augen" (Waldkircher Verlag). Ein dritter Band mit dem Titel "Abschüssiges Gelände" liegt fertig zur Publikation vor. [Anmerkung: Seit der Veröffentlichung des Artikels von Hartmut Ihne wurden weitere Gedichtbände veröffentlicht. Es liegen jetzt vier Bände vor. Siehe die Biographie und das Literaturverzeichnis.] Darüber hinaus finden sich verstreute Veröffentlichungen in Jahrbüchern, Anthologien und Zeitschriften. Jürgen Becker hat Gedichte von Gisela Hemau im Deutschlandfunk vorgestellt, der Norddeutsche Rundfunk brachte ein Funkporträt von ihr.

Schreiben ist für Gisela Hemau "Arbeit". Sie liebe die "Arbeit des Schreibens" - und nur diese Arbeit. Diese Arbeit sei "Konzentration auf das Wesentliche", sie spricht dabei von einem "mittleren Ich". Gedichte sind Ausdruck des Lebens dieses Ichs. Bei einem Gedicht komme es aber wie im Leben nicht in erster Linie darauf an, daß es in einem feststehenden Sinne "schön" sei, sondern daß es "stimmt". Den Dichtern fällt die Aufgabe zu, die geheimen Beziehungen der Wörter untereinander und zu ihren Gegenständen zu entdecken und in ihrer ursprünglichen Stimmung, ihrem Gestimmtsein einzufangen. Dieses Gestimmtsein läßt eine Analogie zur Musik und zu Hölderlins Tönepoetik erkennen. "Für mich ist ein Gedicht wirklich ein Gedicht, wenn es zusammenhält. Dann stimmt es auch, wenn es zusammenhält."

Der Gedichtband "Gitter mit Augen" (im Titel an Celans "Sprachgitter" erinnernd) beginnt im ersten Gedicht mit einer traumähnlichen Selbstvergewisserung derjenigen, die spricht. Sie selbst ist eine Kopfgeburt und kann nur träumend erfassen, was Leben ist. Leiblos träumt sie dem Traum der Mutter vom Löwen hinterher, dem Inbegriff eines Königs in der physischen Natur, deren Teil sie selbst nicht ist. "Heraldisch" ist es überschrieben, und es versucht sich an das anzunähern, was die Sprecherin im "Wappen" trägt, was ihr in die Wiege gelegt worden ist:

Meine Mutter war ein Baum
In ihren Zweigen hütete sie
einen Traum von Löwen
Bei der Niederkunft
hielt sie meinen Leib zurück
Nur mein Kopf kam zur Welt
Löwen sagte sie gibt es nur
in der Wüste und verschluckte
das Wasser ringsum

In vielen ihrer Gedichte spielt, wie auch hier, der Traum, das Träumen eine wichtige Rolle. Träumen heiße, sagt Gisela Hemau, "Bedeutung als Wirklichkeit" erfahren. Im Traum zu weinen sei schmerzlicher als im Wachsein, denn es gebe keine Ablenkung mehr: "Der Schmerz ist dann rein - wie das Wirkliche wirklich". Der Leser, der Gedichte lese, tue nichts anderes, "als die Sprache zu träumen". Das Gedicht wird zuletzt zu einem Vehikel, das den Leser zu einem "Traum-Ich" führt.

Mit Sarah Kirschs "Zorn" auf den "Krätzeplaneten" verbindet Gisela Hemau eine "Wut angesichts der absoluten Sinnlosigkeit von allem". Nie aber gibt sie dieser Wut einen direkten, zornigen Ausdruck, wie etwa Sarah Kirsch in "Winterfeld", sondern sie verfolgt diese Wut mit sicherem Blick in ihren verschiedenen psychomentalen Ausprägungen von Trauer, Ironie, Verzweiflung, Sehnsucht, Verstörung, Resignation. In nüchternem Ton wird in "Weglose Topographie" konstatiert:

Der Körper hört auf
Neben ihm das Gedächtnis
Personen Gegenstände
die sich entfernen
befremdlich jetzt
wie das Wasser
die Luft

Einzig das "befremdlich" bricht aus der substantivischen Reihe des Berichteten (Körper, Gedächtnis, Personen, Gegenstände, Wasser, Luft) heraus. Dieses "befremdlich"kennzeichnet eine Empfindungsweise, läßt das lyrische Ich zaghaft hervortreten. Seine "Wut" auf die "Sinnlosigkeit von allem" tritt als Gefühl des Befremdetseins, des Fremdseins angesichts der Unausweichlichkeit des Todes auf. Aber "jetzt" ist dieses Fremdsein kein anderes als das, was immer schon unausweichlich waltet in unserem Bezug zur Welt ("Wasser", "Luft") - die selbst eine Landschaft ohne Wege, eine Landschaft ohne Zielpunkte ist. Zurück bleibt allenfalls das "Gedächtnis", neben dem Toten, das Gedächtnis derjenigen, die sich des oder der Verstorbenen erinnern. Im Gedächtnis der anderen ist man noch Teil des Lebens. "Mit Vergangenem gehöre wir zum Leben", sagt Gisela Hemau, "mit der Zukunft zum Tod."

Wie leer, wie nichtig und sinnlos Dasein ist, wird in lakonischer Schärfe in "Kein Traum" ausgedrückt:

Den Wasserstand
markiert die Augenhöhe
aber immer weiter sinken
die Bilder ab

Jetzt schläft der Ertrunkene
der seinen Tod nicht bemerkt hat
mit offenen Augen

Die Nichtigkeit, die das Leben durchherrscht, ist so umfassend, daß noch nicht einmal der Übergang zwischen Leben und Tod "bemerkt" wird. Leben und Tod können nicht mehr als unterschieden erfahren werden, weil Leben selbst Tod ist. Das eine wird zum anderen. Gisela Hemau radikalisiert und überwindet hier zuletzt Ernst Meisters Bild vom Sterben als "Sich drehn/ von der Seite der/ Erfahrung auf die/ der Leere, un-/ geängstigt, ein/ Wechseln der Wange/ nichts weiter". Bei Gisela Hemau ist Sterben vielleicht auch ein "Wechseln der Wange", nicht aber im Sinne des beschwichtigenden "nichts weiter", sondern im Sinne der aussichtslosen Kontinuität eines "weiter Nichts". Leben erfährt sich in "Kein Traum" nur noch als Simulation. Der Tote simuliert Leben in der selben Weise, wie der Lebende Leben simuliert hat: durch die "offenen Augen", die den Tod nicht sehen, weil sie auch das Leben nicht gesehen haben.

Die weglosen Landschaften Gisela Hemaus lassen das Dasein treiben, herumtreiben auf einem unbekannten Ozean, den wir Leben heißen. Schon das Kind macht diese Erfahrung, aber ohne darüber unglücklich zu sein:

Kinderglaube

Im Schlafzimmerspiegel
ist der Fluß
Das Kind treibt vorbei
Die Betten von Vater und Mutter
sind aufgeschüttet mit Erde
Der Baum der dort wächst
sprengt das Haus
Das Kind muß nie mehr an Land

Es gibt auch kein Land, keinen Ort, keinen Zustand, bei dem wir verweilen könnten. Gisela Hemau führt uns die verschiedensten Versuchsweisen der Verortung des Daseins vor. Zuletzt aber bleibt jeder wie die Königskinder allein, einsam, ein merkwürdiges, armseliges Nichts. Selbst die Liebe führt nicht zusammen, sondern trennt:

In getrennten Zügen

Nach der Liebe
durchfahren wir
mit einer Geschwindigkeit
die anhält
die Nacht
Alles was wir sehen
rollt nach rückwärts fort
Das Beben des Körpers
ist die mechanische Notation
der Entfernung

Auch der Versuch opportunistischer, aus falsch verstandener Liebe gespeister Hingabe an die anderen, ihnen alles recht machen zu wollen, der Versuch einen Ort in der Familie zu finden, der zu bleiben lohnt, muß scheitern und zeitigt in "An einem Sonntag" eine grotesk-komische Konsequenz:

Aus Verzweiflung
über die unerfüllbaren Verfeinerungs-
wünsche der Familie
das Essen betreffend
legt sich die Mutter
selbst ins Rohr
Natürlich findet die Familie
den Braten zäh
und ungenießbar wie immer
Aber er ist größer heute

Ähnlich wie in der Lyrik Sarah Kirschs spielt auch bei Gisela Hemau das allumfassende Gesetz des Stärkeren eine wichtige Rolle. Überall sieht sie es am Werke in der rücksichtslosen Gesellschaft der Wölfe ringsum, jeder Wolf der modernen Konsumgesellschaft hält sich für einen König. Folge der grenzenlosen Ausdehnung des "homo homini lupus" ist die unerbittliche Zunahme der Einsamkeit:

Besitz

Jeder verbraucht für den Krieg jeden
Seinen Besitz muß man mehren
Dem König gehört der Krieg
Er schafft ihm Platz

Jeder ist König
Jeder schiebt vor sich her
die Dörfer die Städte
das Wasser das Land

Die Einsamkeit des Königs nimmt zu

Fast schon besänftigend wirkt das schöne, sprachlich schlicht gestaltete Bild der "Statue" (an Tiecks "Marmorbild" erinnernd), die in sich selbst ruht, die endlich ihren verzauberten Ort des Verweilens gefunden hat. Sie selbst wird zum Inbegriff des Todes, des Zustands, der das Herumtreiben, das Suchen und Sehnen, das getrieben, gedemütigt und mißbraucht Werden beendet. Hier wird der Tod zur Erlösung, zum Wunschbild:

Ihre gewundenen
Efeuhände

In der Marmorabsteige
des Friedhofs
ist ihr Schoß
der Stein
der sie abschließt

Und dennoch ist der marmorne Stein nicht völlig tot. Das Leben, die Vitalität des Efeus, umwindet die Hände der Figur wie das Geäst der vom Blut durchpulsten Blutbahnen. Leben und Tod bleiben auch hier aufs unentschiedenste miteinander verknüpft. Tod ist immer von Leben umgeben und Leben von Tod. Das Subjekt ist in den Gedichten Gisela Hemaus auf eine merkwürdige Weise dem Tode geweiht. Alle Akte, alles Leben und Begehren, alle Reflexionen verweisen in irgendeiner Weise auf den Bruder des Schlafs.

Wie merkwürdig es mit dem Daseinsort des Subjekts beschaffen ist, wird in einem ihrer schönsten Gedichte, das den Titel "Bild" trägt, mit wenigen meisterhaft leichten Strichen festgehalten:

Manchmal übersetzt sich
im Nebel
ein Hügel ein Baum
ins Chinesische so
als wäre man dort daheim
aber es finden nur Platz
der Nebel
der Hügel
der Baum

Der Mensch ist nicht Teil der Welt der Bäume, der Hügel, der Nebel. Jeder Versuch, sich in die Natur zu übersetzen und dort eine Heimat zu finden, scheitert am Geheimnis der Unübersetzbarkeit. Das Reich des Menschen ist nicht die Natur, sein Reich muß er sich erst bauen.

Seine Daseinsform ist von der "Fahrt" geprägt, die Fahrt zum Tode ist, und deren Geschwindigkeit "längst die Sinne überholt" hat. Das Eröffnungsgedicht in ihrem bisher noch nicht veröffentlichten Gedichtband «Abschüssiges Gelände» [Anmerkung: Der Band ist inzwischen erschienen] heißt deshalb programmatisch auch «Fort»:

Der Ufervorsprung löst sich
ab folgt der Strömung
die dem Wind folgt
ich lehne mich an den Baum
der Baum ist ein Mast
ich fahre und fahre

(Hartmut Ihne. Übersetzungsvorlage zu "Lírica alemana de hoy: Sarah Kirsch y Gisela Hemau." Humboldt. Jg. 34. Nr. 108 v. 1993, S. 52, 54, 56, 58, 60. )