Abschrift einer teils kaum lesbaren Kopie aus: Prager Tagblatt. Jg. XXXVIII, Nr. 336 v. 7.12.13, S. 20 f.

„Die Schaukel“.

 

        Im Saturn-Verlage Hermann Meister in
Heidelberg ist eben ein kapriziös ausgestattetes
Büchlein erschienen, das unter diesem Titel einige
zwanzig ungewöhnlich persönlicher Skizzen ver-
einigt. Der Verfasser nennt sich El Hor und
wir sind diesem Namen bislang nur ganz verein-
zelt, hauptsächlich in der von Alfred Kerr geleite-
ten Berliner Zeitschrift „Pan“ begegnet. Den
Neugierigen sei es gleich im Voraus verraten, daß
hinter dem Pseudonym eine junge, uns Pragern
wohlbekannte Dame steckt. Aber es sei auch gleich-
zeitig konstatiert, daß dieses hübsch gedruckte, mit
einer Umschlagzeichnung von Herbert Großberger
geschmückte Buch durchaus nichts Gemeinsames mit
jenen schriftstellerischen Versuchen hat, die eine schön-
geistige Frauenwelt nicht nur hierzulande gerne der
Literatur zurechnen möchte. Diese Notizen haben
mehr als die angelesene, aus der ästhetischen Neu-
gier geborene Akkuratesse der Betrachtung, sie sind
bei aller Grazilität nichts weniger als „fix“ und
haben auch nichts von der paradoxen Klugheit an
sich, die man sich gerne und gutmütig als „Geist“
aufschwatzen läßt. Es sind ungefähre und planlose
Aufzeichnungen, erotische Prätentionen, kleine Ge-
schehnisse, die zu intensiv sind, um pikant zu sein.
Zuweilen schrumpft eine dieser Skizzen zu einer
bloßen Anmerkung zusammen, die den Möglichkeiten
künstlerischer Umformung alle Wege offen läßt.
Das ist dann etwa so wie im Kino, wo eigentlich
das Publikum der Dichter ist. Jede Begebenheit,
jede Situation, die auf der Leinwand lebendig
wird, geht da durch einen hundertfältigen Ge-
staltungsprozeß, wird bei jedem einzelnen Zu-
schauer anders empfunden, nimmt aus der Psyche
eines jeden Kraft und Substrat eines selbständigen
Erlebens. Dem einen scheint kitschig, was den
andern zu Tränen rührt und was den dritten nur
ein schwermütiges und verlegenes Lächeln kostet.
So oder ähnlich wäre die Mechanik einer künstle-
rischen Synthese, wenn man in dem Buche El Hors
unter der Ueberschrift „Der alte Bettler“ nur die
dürren Zeilen liest: „Jeden Samstag abend, wenn
die kleine Vorstadt-Kondotorei mit frischem Gebäck
gefüllt ist, kauft er um zehn Kreuzer zwei Stück
Kuchen für seine Enkelkinder.“ –
          Diese  knappe Sparsamkeit mit den Mitteln ist
jedoch keineswegs in irgendeiner Weise für „Die
Schaukel“ charakteristisch; da gibt es im Gegenteile
fein ziselierte Stücke, verzärtelte und perverse Spie-
lereien, parfümierte Brutalitäten, die mit einer
bemerkenswerten Selbstverständlichkeit erzählt wer-
den, wie die Geschichte von dem Mädchen mit den
Schnecken oder die Groteske von dem Manne, der
wie ein Hund aussah und der schönen Dame im
Parkett. („... Als das Theater aus war, ging
sie zu dem Mann und sagte ganz leise und freund-
lich bittend, wie ein sanftes, kleines Kind: Bitte
beißen Sie mir die Kehle durch.
          Der Mann sah sie an und seine Augen
glänzten fröhlich auf.

      Ja – das will ich – sagte er.
      Sie gingen einen weiten Weg zusammen und
sprachen kein Wort. Als sie an einen Platz an-
kamen, der dem Mann geeignet war, biß er ihr
die Kehle durch.
      Dann leckte er sich das Blut vom Munde,
leckte sich und ging davon.“) Die durchaus nicht
unfrohe Erkenntnis, die Schmerz und Lust des
Lebens auf die Launen einer überall latenten
Sexualität zurückführt, wird hier unbefangen mit
einer unbekümmerten Ernsthaftigkeit präsentiert,
die bei dem Erstlingsbuche einer jungen Frau
zurecht erquickt. Und wir erkennen hinter dem
brisanten Exterieur der kleinen Geschichten un-
erwartet die Umrisse einer Persönlichkeit, deren
inneres Erleben seitab von vorgeschienten Mustern
verläuft.

                                         Paul Leppin.