In: Matrix. Zeitschrift für Literatur und Kunst Nr. 3 / 2020, S. 61.


Peter von Mallinckrodt

Am Anfang war der Körper


Seit ihrem ersten Gedichtband hat Gisela Hemau, um es poetisch, also ein wenig ungenau, zu sagen, in sieben mal sieben Jahren sieben Gedichtbände veröffentlicht, davon einen, zweisprachig, in Frankreich, und den bisher letzten im Frühjahr 2020, sein Titel Auf der Rückseite der Augen.

Schon immer wurde die Musikalität der Sprache Gisela Hemaus und die Kühnheit ihrer Bilder gerühmt, deren Magie man sich nicht entziehen könne, und das gilt auch von dem neuen Band der jetzt 82-jährigen Autorin*. Lässt man sich näher auf diese Aussagen ein, so sieht man, dass die Rede von den Bildern mehrdeutig ist. Einmal meint sie die Bilder (Metaphern), mit denen ihre Lyrik spricht, zum andern die Bilder (Symbole), die ihre Lyrik entwirft und zum Dritten das, was diese vom Gedicht entworfenen Bilder zeigen, oft nämlich selbst wiederum Bilder: manchmal von wirklichen Malern gemalte, meist aber Gemälde eines imaginären Museums, die nur im und durch das Gedicht Bestand haben und ihnen ihre suggestive Rätselhaftigkeit geben.

Auch die Rede von der Musikalität ist nicht eindeutig, weil sie die (metaphorische) Wortmusik bezeichnen kann, die eine Eigenschaft der verkörperten Semantik, also eigentlich eine Synästhesie von Sinn und Wortklang ist. Und zum andern ist es buchstäblich die Prosodie und die Linie, die durch den variablen Fluss der Wortakzente den Textkörper des gesamten Gedichts zusammenhält. In beidem beweist die 82-jährige Autorin ihre Souveränität über das sprachliche Material. Und auch von der Musik gilt, dass sie wiederum oft Gegenstand und Thema der Gedichte ist.

Und schließlich wenn von Magie die Rede ist, dann ist der wichtigste Aspekt die Kraft der Evokation, Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen, die von einem gewissen vom Real-Sinn der Worte sich lösenden Hermetismus gesteigert wird, der aber bei Gisela Hemau nicht so weit geht, den Leser auszuschließen. Das Fremde, Befremdende, sich dem unmittelbaren und manchmal auch dem mittelbaren Verständnis Verschließende ist eingewoben in durchsichtige Passagen, die genügend Anhalt und Anreiz bieten, sich in die dunklen Stellen zu vertiefen und dem geheimen Leben in den Gedichten zuzusehen. Mit Furcht und Mitleid, sozusagen. Durch den starken Gefühlsgehalt, manchmal die Gewalttätigkeit vieler dieser dunklen Bilder wird der Leser in den Bann gezogen. Auch Träume sind ja hermetisch, aber sie treffen uns dort an, wo wir sind. Auf beunruhigende Weise sprechen sie von uns, auch dann, wenn wir nicht die Träumer sind.

Die dreiteilige Sammlung dieser ihrer neuesten Gedichte ist sorgfältig komponiert. Zum ersten Mal wird Gisela Hemau biografisch konkret. Die erste Gedichtgruppe ist überschrieben mit Ein Kindheitsort 1944 bis 1950. Bei einer so erfahrenen Autorin, die von sich sagen könnte, was der Lyriker in Jim Jarmushs wunderbarem Gedicht-Film „Paterson“ von sich sagt, ich atme Lyrik, darf man auch eine souveräne Inszenierung ihrer Arbeiten erwarten. Und man sieht auf den ersten Blick, dass sie beim Wort genommen werden will. Man befindet sich mit diesem ersten Blick jedoch noch in der Situation von Unkundigen, die zwar wissen, dass nichts dem Zufall überlassen ist, aber sie kennen die Regeln nicht. Also werden sie sich in dieser Fremde auf eigene Faust orientieren müssen, und alsbald sehen, dass diese Fremde auch die der lyrischen Hauptstimme selbst ist, der sogar die Sonne fremd ist. Diese Entfremdung scheint eines der Hauptthemen des Buches zu sein, dessen Hermetik dadurch zur existenziellen Metapher wird. Das Lyrische findet sich Außer Rufweite. Das war der Titel des vierten Gedichtbandes von Gisela Hemau. Dennoch wird der Leser manches finden, das seine Wirkung allein aus der knappen alltagslyrischen und gerade dadurch mehrdeutigen Pointe entfaltet. Ein phallisches Gelände, sagt der Mann. Hör auf, sagt die Frau und zeigt auf das Kind. Es gähnt. Wenn jedoch auffällig gestreut die erste Gedichtgruppe von Stieren und Schlangen durchquert wird und die zweite Gedichtgruppe mit dem Gedicht über einen griechischen Tempel unter Griechischem Blau beginnt, dann beginnt vor dem inneren Auge des Lesers über das Einzelgedicht hinaus ein Hypertext aus Texten und Kontexten sich zu bilden: auch das gehört zum geheimen Leben dieser Dichtung. Es erstreckt sich vom Bildungsbombast des phallischen Geländes über das Leben der Wortbedeutungen, wie sie sich vor allem dem Kind eröffnen Wege geschlängelt Schlangen, durch die sich dann selbständig machenden Wortfelder Stier und Schlange bis zum erwähnten griechischen Himmel mit griechischem Tempel, in dem aber nirgends ein Olymp sich zeigt. Die Wortfäden führen in die Kindheit zurück, von Vater und Mutter zu Kind, von den Wörtern zu den Sachen und den in ihnen aufbewahrten Erinnerungs- beständen, dem Traumhaften und alltäglich Zeichenhaften: die Wurst ist ihr wurscht sagt die Mutter nun zur Metzgerin, was wie eine kalkulierte Grobheit im Wohlklang der überall sonst präzise rhythmisierten Sprache wirkt. Es ist die Zeit der Währungs-reform. Die Metzgerin trägt die Ringe der Mutter. Immer wieder auch führen die Wortfäden auf die Wort-Motivik der Augen zurück, im Titel, bei der Nazi-Milchfrau, bei den Augen aus Luft des Kindes, die im ganzen Buch wirksam ist. Sie überlassen sich dem Gleiten der Bedeutungen. Als ob diese Bedeutungen in einem Zustand verharrten, der vor ihrer endgültigen Befestigung in der Erwachsenen-Seele liegt. Nun enthüllt auch der Titel der ersten Werkgruppe In die Erde geduckt seinen Sinn: Am Anfang war der Körper. Ungeschieden ist noch sein Innen und Außen, einerseits das, was auf der Rückseite der Augen ist, andererseits, das was sich duckt oder geduckt wird: in die Erde, wie ein Soldat oder ein Tier. Zugleich wird Dichte und Enge, äußere wie innere, evoziert die Verbohrtheit ihres Leibes in den Sehnsuchtslöcher gestanzt werden müssen und aus dem ihr Flügel… wachsen, wie andern ein Buckel // Flügel, die ihr die Fußsohlen / zerkratzen durchbohren / während sie kniet // vor der mit ihrer / Haut überzogenen / Wand. Diese Flügel sind vielleicht schon die Flügel des Gedichts.

In der zweiten Gedichtgruppe, mit dem Titel Fremd das Licht, ist das Auge bei den Sachen, kaum bei sich selbst, und in diesen Sachen schlägt eins ums andere Mal ihre Tendenz zur Auflösung durch. Überall drängt sich als schweres düsteres Zeichen das Körperliche, seine Sterblichkeit, sein Schmerz und seine Bedrohtheit von Weltlosigkeit vor. Wie sollen wir es/ trösten/ das Blau // das aufgespannt/ über den Säulen/ nur noch Farbe ist. Das Auge konstatiert. Erst im letzten Gedicht wendet es sich der im Titel genannten Rückseite der Augen direkt zu und formuliert mit der erschreckenden Gültigkeit einer Prophezeiung: Es wächst… / selbst ist es blind. Um zu sehen braucht es die Augen der Lebenden. / Und sie, die nichts von ihm spüren, schauen und schauen. Bis zu ihrem Ende. Sehr selten ist das Auge bei den Wörtern, der Sprache, beim Gedicht selbst, um so häufiger bei der Kunst, bei Malern, Komponisten, Dichtern (Klimt, Chopin, Beckett, Mozart). Die Reflexion des dichterischen Tuns formuliert sich in der Objektivierung dieser Gestalten, die unter dem Eindruck einer alles bedrohenden Negation stehen. Von Robert Walser heißt es geradezu filmisch Immerzu räumt er auf / aber es gibt keinen Raum…“. Die Reflexion des dichterischen Tuns formuliert sich im Umriss Strich um Strich, die Wege, wo er … versinkt / soll er den Rand/ des Abgrunds/zeichnen // Auf dem Blatt der Umriss seines Körpers, formuliert sich in der Abstraktion, jedoch in nun offener Ich-Rede, Ich zeichnete Schnecken … nun zeichne ich nur noch Spiralen. Aus dem sich duckenden Körper des Anfangs ist das künstlerisch überlebende zeichnende Ich geworden und das Vermögen, ebenso wie der klavierspielende Regengott, den Brechungen nachzuspüren, in jenem vereinzelten Akkord, der ihn zusammenfasst. Dieser Naturlaut könnte es trotz allem sein, den jedes dieser klanglich sorgfältig gestimmten Gedichte wiederzugeben trachtet, dessen Material zugleich immer wieder der Auflösung, dem Verschwinden und dem Schmerz abgenötigt zu sein scheint.

In der dritten und letzten Gruppe Zwischen Geisterziffern und Jahren tauchen sie dann aber doch auf, die Wörter selbst: als Vögel, als befreundete Tiere, als Wiederaufnahme von Wortmotiven der ersten beiden Teile oder als Wortspiel, wo die Progression des Gedichts mit dem „i“ der Infantin von der Pavane zum Pavian sich fortzeugt und aus dieser vom Wortkörperklang gezogenen Linie ein Bild wie von Velasquez malt, in dem zugleich das Motiv des Tier-Werdens seine Dynamik entfaltet. Die Gedichte dieses letzten Teils entwickeln sich geradezu leitmotivhaft aus Sinnfeldern, die von Verpuppung, Fremdheit, Farbe, Musik, Wald, Zähnen, Zeit, Fell, und Wind handeln und so diese Gedichte wie Kleinode in ihrem Netz zusammenhalten. Ihre Selbständigkeit gewinnen diese Kleinode andererseits durch formale und inhaltliche Schlüssigkeit. Typisch für die Autorin sind zwei Gedichte, die aus einem einzigen zwingenden Bild entstehen. Das eine entwickelt sich aus einem im Wasser sich spiegelnden Berg und der Konsequenz aus beidem, einer Höhe also, die zugleich Tiefe ist, und endet mit Doch tiefer und tiefer/ das Wasser/ und kein Zurück. Das andere mit dem Titel In der Schwebe entwickelt sich aus dem weitläufigen Vergleich einer Harfe mit einem Flügel, der in einem windfingrigen Klang und dem wegen seines kindlichen Tons gut in den ersten Zyklus passenden Stoßseufzer nur jetzt nicht/ sinken endet. Den Band beschließt eine Standortbestimmung im Heute Nur scheinbar bin ich frei. Kaum, dass ich aufatme, verführen Sie mich wieder mit dem Buchstabenglanz ihres Fells. Und ziehen mich mit sich fort. Da ist es noch einmal benannt, das Leben der Autorin mit den Wörtern, das sich in seiner Ausgesetztheit unbeirrbar entfaltet.

*Gisela Hemau, Auf der Rückseite der Augen. Gedichte und Prosaminiaturen, Würzburg 2020.