Die Lyrik ist nicht tot.

Zu Gisela Hemaus jüngstem Gedichtband Außer Rufweite

Von Gerhard Seel

Das Volk der Dichter und Denker denkt nicht mehr, dichtet nicht mehr. Es musste so kommen. Verleger sind in Verlegenheit, wenn sie dies erklären wollen. ’Lyrik verkauft sich nicht’. Aber kann man verkaufen, was man nicht verlegt? Oder verkauft sich Lyrik deshalb so schlecht, weil man zu lange etwas als Lyrik verkauft hat, das keine war? Wir haben in der Tat verlernt Lyrik zu lesen, wir müssen es wieder lernen. Und da kommen Gisela Hemaus Gedichte gerade recht.

Hier haben wir Gedichte, die ihren Namen verdienen. Im Unterschied zu den meisten anderen europäischen Sprachen, in denen das Wort für Gedicht (poem, poème, poema) eigentlich soviel wie ’Gemachtes’ bedeutet, hat die deutsche Sprache dafür ein Wort, das wirklich den Kern der Sache ausdrückt. Das sprachliche Kunstwerk ’Gedicht’ entstammt ja dem Prozess einer semantischen Konzentration, der Verdichtung und dem Ineinanderweben der semantischen Ebenen unserer Ausdrücke: ein Gedicht kann unendlich viel mit ganz wenigen Worten sagen. Es erreicht dies, indem es die vielschichtige Mehrdeutigkeit unserer Wörter ausnutzt, sie in neue, unerhörte Beziehungen bringt, bis sie sagen, was zu sagen ist. Gute Gedichte können also sehr kurz sein. Hier ein Beispiel aus Gisela Hemaus Band:

Zwischen Wänden

Die Echoeinfalt
des Körpers
der nur den Raum
kennt
bis ertaubt
er die Zeit sich erfindet
mit seinem Tod

Oxymora, Wörter und Ausdrücke, die aus gegensätzlichen Bedeutungselementen aufgebaut sind, machen dieses Gedicht aus.’Echoeinfalt’ ist so ein Wort. Denn Echo ist per definitionem die Wiederholung eines Schallphänomens. Diese Wiederholung geschieht in der Zeit, hat Zeit zur Voraussetzung. ’Echoeinfalt’ ist also eine Chiffre für Zeitlosigkeit und das bestätigen die nächsten Zeilen auch: der Körper – unser Körper – ist eigentlich etwas nur Räumliches. Der Raum ist seine - vorerst heile – Welt. Aber dann kippt das Gedicht. Die heile einfältige Welt bricht. Der zeitlose, gehörlose Körper erfindet sich die Zeit. Warum? Die Zeile ’bis ertaubt’ sagt es. Seine Echoeinfalt, seine Gehörlosigkeit ist die Folge einer Ertaubung. Auch hier arbeitet Hemau mit einem Widerspruch. Wie kann ertauben, was nie Gehör besaß. Dieses Ertauben ist quasi metaphysisch: der Körper ist ertaubt, weil er eigentlich hört, weil er zum Hören bestimmt ist. Um aus seiner Taubheit auszubrechen, muss er das Echo, die Zeit erfinden, für sich erfinden. Aber Zeit heißt Tod. Denn Zeit ist das, was zwischen der Geburt als echoeinfältigem Körper und dem endgültigen Ertauben, dem Tod liegt. Dies sind die Wände, zwischen denen wir eingesperrt sind. Heidegger hat Ähnliches gesagt. Aber wie viele Wörter hat er dafür gebraucht. Dies Gedicht sagt all das eigentlich schon mit der ersten Zeile ’Die Echoeinfalt’. Dieses Substantiv steht allein da, ohne Prädikat. Was von ihm gesagt wird sind nur widersprüchliche Attribute. Sie sind Hall und Widerhall, akustische Wegweiser. Wenn man das Gedicht verstanden hat, ist man nicht mehr auf sie angewiesen.

Wir berühren hier den Kern von Gisela Hemaus Arbeitsweise. Sie sagt selbst: ’Für mich ist ein Gedicht wirklich ein Gedicht, wenn es zusammenhält’. Sie arbeitet die sprachlichen Mittel ab, bis das Gedicht zum Stehen kommt, bis es ’wahr’ ist. Aber es ist nicht die Wahrheit der Philosophen, die sich dann plötzlich einstellt. Das Gedicht ist wahr, wie Gefühle, Schmerzen für den wahr sind, der sie hat. Auf diese Gefühle muss sich der Leser einlassen, diesen Schmerzen muss er sich aussetzen. Denn Gisela Hemaus Gedichte sind Schmerzensschreie, Hilferufe oder - genauer noch – Rufe um Gehör. Aber diese Rufe – ex profundis - hört niemand. Wer sich auf diese Gedichte einlässt, wird wie von einem Malstrom in die Tiefe gesogen, bis er zu weit weg ist, um die Rufe zu hören. Er gerät selbst ’außer Rufweite’. In dem Sinne ist das folgende Gedicht ein Schlüssel zum ganzen Band.

Grundlos

In diesem Zimmer
ein Behälter
in den man
gerät wie
in eine
Tiefe

Wenn man
verschwindet
steigt
vor dem Haus
das Wasser
Der Behälter
wird leer

An den Wänden
hängen Leitern
Keine einzige
Sprosse ist
intakt

Dies ist die Grundstimmung, der Grundgedanke des Bandes, aber auf mannigfaltige Weise abgewandelt und gespiegelt in vielerlei Begegnungen, die sich in 10 Abschnitten unter den Titeln: ’Überführungen’, ’Fallen’, ’Seh- und Traumschärfen’, ’Trancen’, ’Einsamkeiten’, ’Wassergegenden’, ’Besitznahmen’, ’Gefangenschaften’, ’Trennungen’ und ’Die lange Zeit’ finden. Da sind Landschaften, Städte, Kunstwerke und Künstler thematisch, eine Eigentümlichkeit, die auch schon Gisela Hemaus letzten Gedichtband Abschüssiges Gelände auszeichnete. Aber während dort die Begegnungen oft einen spöttisch-ironischen Zungenschlag hatten – die Dichterin besucht zusammen mit Morgenstern Duchamps – überwiegt jetzt das Skurrile, das Absurde und das Tragische, oft mit einem kulturkritischen Seitenhieb untermischt. So opfert etwa Van Gogh sein Ohr ’einer unmalbaren Gesellschaft’, die sich auf ihm zu einem Picknick niederläßt.

Auf dem Buchumschlag kann man lesen, dass Gisela Hemau Literaturwissenschaft studiert hat, dass sie beim Westdeutschen Rundfunk als Hörspiellektorin gearbeitet hat und in Bonn lebt. Auch erfährt man, dass ihre Gedichte in Zeitschriften Jahrbüchern und im Rundfunk veröffentlicht wurden, dass Übersetzungen in spanischer, portugiesischer und rumänischer Sprache erschienen sind und dass das Gedicht ’Kythera’ von Violeta Dinescu vertont wurde. Auch ein Hinweis auf die bisherigen Lyrikbände Mortefakt (Nicolai Verlag), Gitter mit Augen (Waldkircher Verlag) und Abschüssiges Gelände (inzwischen in 2.Auflage beim Verlag Königshausen & Neumann) fehlt nicht. Ich sage das für diejenigen, die den Eindruck haben, es gäbe sie gar nicht, ich hätte sie nur erfunden.