Angst. In: Deutsche Arbeit X, 1 (1910 /1911), 56-57.

 

Angst.

Von Paul Leppin.

Wovor ich eigentlich Angst habe, fragst du mich? O, es ist nicht so, daß ich mich fürchten würde. Es ist ein Grauen, das mich auf einmal überfällt, wenn ich zuhause bin und die Figuren der Wandmalerei mit den Augen nachzeichne oder wenn ich auf dem Balkon des Kaffeehauses sitze und mir die Menschen unten auf der Straße betrachte. Da kommt es ganz leise, unmerklich und ohne daß ein Grund dazu da wäre. Ich spüre, wie es hinter meinem Rücken auf mich zukommt, wie es verlegen stehn bleibt und wartet. Ich sehe den Leuten ins Gesicht, sie sind ganz wie sonst, ganz wie gewöhnlich. Ich sehe der Fliege zu, die langsam über den Lampenschirm kriecht und rege mich nicht. Ich weiß, jetzt wird es mich anrühren. -

Und dann ist es da. Es ist wie eine Hand, die die Finger über meinem Herzen zusammenlegt. Es kommt auf allen Wegen. Manchmal fühle ichs, wenn es noch ganz weit irgendwo draußen in den Feldern oder in der Vorstadt ist. Mein Gehör hat sich geschärft. Ich lausche in die Stille, minutenlang, viertelstundenlang. Am Ende der Straße fährt ein elektrischer Wagen ein. Ich höre die Schienen summen. Das Geräusch wird stärker, die Fenster dröhnen und der Wagen fährt an meinem Hause vorbei. Aber unten, wo aus dem Laden des Kaufmanns der Lichtschein auf das Pflaster fällt, ist es abgesprungen und in das Haustor getreten. Es. Ich kanns nicht anders nennen, ich weiß nichts davon, als daß es mich täglich besuchen kommt. Es hat kein Profil, keinen Namen, kein Geschlecht. Dann kommt es die Stiegen herauf, die Türen öffnen sich von selbst und es steht hinter mir. Niemand sonst kann es bemerken, es kommt zu mir, ganz allein zu mir. Etwas Körperliches, da man nicht wahrnehmen kann, etwas Fremdes, das nicht zu mir gehört. - Es.

Vor zehn Jahren saß ich eines Abends mit meiner Geliebten im Chantant. Da war es zum erstenmal so deutlich neben mir, daß ich aufschrie und die Leute nach uns schauten. Wir saßen zu zweit bei Tische und links von mir war ein leerer Stuhl, der ein bischen abgerückt daneben stand, als wäre eben jemand dort gesessen und hinausgegangen. Ich kann mich noch genau erinnern, was das für ein Sessel war. Der Sitz war eingewölbt und braun poliert. In das polierte Holz waren ein paar einfache Muster gedrückt. Ein gewöhnlicher Wirtshausstuhl mit gebogenen Beinen und einer geschweiften Lehne. Die Chansonette auf der Bühne war eben mit ihrem Liede zu Ende gekommen, als ich den Kopf zur Seite wandte und nach links sah. Da kams, daß ich schrie. Auf dem leeren Sessel neben mir saß es. Der Stuhl war noch immer leer und ich sah das Lampenlicht auf der polierten Fläche mit den Mustern glänzen. Und doch fühlte ich etwas neben mir, von dem eine bodenlose Angst ausging, etwas, das ich kannte und das ich niemals früher oder später so deutlich gespürt habe. Etwas, das mein Herz zittern machte und mir die Tränen aus den Augen trieb. - Es.

So blieb es den ganzen Abend an den Tisch gelehnt, bei dem wir saßen. So kommt es täglich zu mir, von ungefähr mit all dem Grauen eines andern Lebens. Das Wort ist mir fast ungewollt in den Sinn gekommen. Es muss aus einem andern Leben sein, dieses Etwas, das sich an mich drängt und mir bange macht. Aus einem Leben, in dem unsere Ahnungen noch nicht tappen, aus dem durch einen Zufall der Natur ein Stück Bewußtsein in mich hineingeraten ist. Irgend eine Wurzel in meinem Wesen muß gelockert sein, irgend ein Atom meiner Seele muß Irrgänge gehn, von denen ich nichts weiß. Wenn ich in der Nacht aufwache, liege ich mit offenen Augen da und kann mich nicht auf mein Dasein besinnen. Ich denke nach, wer ich bin und kann mich nicht an meinen Namen erinnern. Ich schaue in die Finsternis wie in ein Loch, in einen unendlichen Ring. Vielleicht hat ein Teil meiner Seele da meinen Schlaf benützt, um von mir fortzugehn und in einem andern Leben heimisch zu sein. Vielleicht bin ich auf rätselhaften und unbekannten Reisen und nur mein Körper schläft. Vielleicht bin ich deshalb so müde. Die kleinste Anstrengung ermattet mein Gehirn. Wenn ich die Zeitung lese oder einen Brief geschrieben habe, drückt es wie Blei in meinem Kopfe und ich will schlafen. Aber es nützt ja doch nichts, ich weiß, es ist nutzlos.

Ich glaube manchmal, daß die Grenzen zwischen mir und den andern, zwischen meinem eigenen und dem innern Leben der Dinge verwischt sind. Es sind Fremdkörper in mir, die mein Dasein stören und beengen. Als Kind hab ich einmal in der Nähe der Stadt einen Baum gesehn. Es war Winter und Dämmerung. Im Tal lag das Dorf und sah mit trüben und roten Augen in den Wald hinein. Der Baum stand abseits mit gebreiteten Ästen, die der Schnee beugte. Hinter ihm war der Himmel mit dem letzten Licht. Ich habe diesen Baum nie vergessen. Er ist mit mir groß geworden und sein Bild hat mich niemals verlassen. Vor zwanzig Jahren vielleicht hab ich ihn einmal am Wege gesehn. Aber ich bin überzeugt, daß er noch da ist und die Äste in den Himmel breitet. Oft, wenn ich müde bin und die Augen schließe, ist mein Leben vertauscht. Ich stehe statt seiner da und fühle den Schnee auf den Zweigen und spüre wie ein Stein an eine Wurzel stößt und schmerzt. Ich bin der Baum. Das Dorf unter mir im Tale ist wie damals und der Wald neben mir rutscht den Abhang hinunter und sein Atem mischt sich mit der Kälte. Ich stehe da und rühre mich nicht. Es ist wundersam und sonderbar. Es ist schön, so zu leben, den Geruch der Erde im eigenen Leibe zu fühlen, nichts anderes als Licht und Dunkelheit, Dunkelheit und Licht zu empfinden. Es ist schön, aber mir graut davor.

Ich sehe mich auch manchmal in einer fremden Stadt. Ich habe eine elegante Wohnung in der Hauptstraße mit kostbaren Teppichen und Lampen. Ich sehe den Elfenbeinknopf der Klingel auf meinem Schreibtisch und weiß, wenn ich läute, kommt der Diener herein. Ich will ihm sagen, er soll mir den Pelz bringen. Bin das ich? Warum sehe ich das seit Jahren so aufdringlich deutlich, immer, seit ich zurückdenken kann? Ich sehe mich selbst im Spiegel. Ich habe einen graumelierten Vollbart und ein gelbes Gesicht. Ich rieche den Duft der Zigarren, die in der Holzkiste auf dem Rauchtisch stehn. Wäre ich ein Kenner, ich würde gewiß die Marke erraten. Dann endlich besinne ich mich. Ich will nicht bei einem Leben verweilen, das nicht mir gehört. -

Ich weiß es jetzt. »Es« ist der Schatten der Dinge, mit denen ich mein Dasein teile. Es gibt viele in mir und neben mir. Zuweilen ist es der Baum auf dem Felde neben dem Walde am Abhang, zuweilen ein anderes. Damals im Chantant war es der Herr mit Pelz und Vollbart, dessen Gesicht mich so traurig macht. Aber ich habe noch eine Angst, eine ungeheure, trostlose Angst, die so groß ist, daß ich weine. Wenn einmal jener Teil von mir, jenes Stück Seele, das von mir weg auf Abenteuer geht, nicht mehr zurückkäme, wenn es den Weg nicht mehr fände und ich daliegen müßte und mit irren Augen ins Finstere starrte, wenn ich mein eigenes Leben vergäße und ratlos vor mir selbst dastünde, haltlos zwischen meinem und einem andern Dasein, von denen dann keines mehr zu mir gehört - - - wie ein Kind, das man in der Fremde im Dunkeln allein gelassen hat. - - - - - - - - - - - - - -