Prager Boheme

Erstdruck in Prager Presse, 1. Jahrgang, Nr. 48, 15. Mai 1921, Beilage, S. 1

Wenn ich an die Zeiten zurückdenke, wo es in Prag so etwas wie eine deutsche Bohème gab, taucht vor allem der eigenwillige Kopf Alexander Moissis ins Licht. Jung, leidenschaftlich, genußfroh, war er nach kargen Jahren, die er als Sprachenlehrer, Teppichhändler und Gelegenheitsagent unter fremden Himmelsstrichen verbrachte, übermütig in die bunte Welt des Scheins geflüchtet. Als Burgtheaterstatist nahm er entschlossen den Zufall beim Schopfe, avanzierte über Nacht zum Charakterspieler der Landesbühne Angelo Neumanns in Prag. Die Jahre, die folgten, brachten die unvermeidlichen Krisen der Gärung, sein ungebändigtes Temperament bisweilen ins Unmäßige steigerte.

Es war eine rauhbeinige Gesellschaft, die damals in den Kneipen und Weinschänken Altprags die Abende vergeudete. Ohne die Zusammenhänge starker Prinzipien, ohne Zugehörigkeit, ohne gemeinsames Kunstmaß, fanden sich alle in einer Art ekstatischer Lebensbejahung, die ihre unbürgerlichste Tugend war. Der Humor, der zum guten Teile in der Frechheit der Jugend wurzelte, lieh den Zusammenkünften Folie und Programm, der Dalles, ihr unentrinnbarer Begleiter, hielt abenteuerliche Radaulust auf einer erträglichen Linie. Da war Richard Teschner, der Maler weltfremder Begebenheiten, dessen Schlußrock und schweigsame Abgekehrtheit verstiegene Kunstakademiker zur Gefolgschaft begeisterte, Viktor Hadwiger, der im Schatten seines ungeheuren Schlapphutes lyrischen Verkündigungen ganz besonderen Formates nachsann und der später in Berlin verbittert und glückshungrig einen allzu frühen Tod gestorben ist. Da waren Aerzte und Lebemänner, Müßiggänger und Studenten, die der Drang nach Ungebundenheit, die Neugier nach Unerwartetem um die Tische gruppierte, wo aufgeplusterte Pose, geradezu Beredsamkeit ewigen Problemen den Hals brach, wo der Zigarettendampf sich über den Häuptern verzückter Jünglinge zur Gloriole verdichtete.

In der Regel wurde dann einer von diesen Zaungästen der Bohème für den betreffenden Abend zum Mäzenas ernannt und hatte die Ehre, für die anwesenden Genies die Zechschuld zu begleichen. Bei Neulingen, die mit den Gepflogenheiten des Kreises noch nicht genügend vertraut waren, ergaben sich zuweilen unliebsame Widerstände, die ebenso schnell wie gebieterisch beseitigt wurden. Ich erinnere mich bei dieser Gelegenheit an eine hübsche Kaffeehausszene, bei welcher Moissi, der immer bei gesegnetem Appetite war, sich eben eine Portion delikaten Schinkens genehmigte. Ihm gegenüber saß ein schüchterner junger Mann, der schöngeistige Interessen vorsichtig hinter einem gepflegten Aeußern versteckte. Moissi, der vielleicht gerade deswegen vielverheißende Finanzkräfte in ihm vermutete, unterhielt den Korrekten in verbindlicher Form mit vergleichenden Betrachtungen über Lebensmittelpreise. „Für diesen Schinken, den ich da esse,“ – dozierte er freundlich – „zahlen Sie zum Beispiel – – –„ – „Ich?!“ – protestierte der Angestrudelte mit erschrockener Abwehr und sein Gesicht gab so deutlich einer plötzlichen Besorgnis Ausdruck, daß die Tischrunde prompt in ein amüsiertes Gejohle ausbrach. Moissis sprachkünstlerischer Versuchsballon wurde nachmals noch öfter belacht; ob der geängstigte Kavalier damals den Schinken wirklich berappte, ist mir seither allerdings aus dem Gedächtnis geraten.

Mit Gustav Meyrink, der damals noch sein Wechselstubengeschäft in der Prager Neustadt betrieb, mit Franz Zavrel und seinem phantastischen Anhang liefen wir später eines Tages urplötzlich im Hafen des Okkultismus ein. Für unsere geistige Verfassung, die in den weglosen Irrgründen vorhergegangener Jahre ziemlich bedenklich verbummelte, war dieser Seitensprung ins Reich der Grenzwissenschaften eine willkommene Anregung. Im eleganten Junggesellenheim Zavrels, der mit Schnäpsen und Zigaretten immer reichlich versorgt war, gab es jetzt endlose, bis zum Morgengrauen währende Geisterbeschwörungen, Haschischséancen und magischen Hokuspokus, zu dem unser betriebsamer Hauswirt zuweilen wirkliche Hexen beisteuerte, „mediumistische“ Kellnerinnen und Nähmamsellen, die sich vom Tischrücken im Finstern besonders pikante Episoden versprachen.

Mit dem Abgang Meyrinks und Zavrels nach ihren neuen Wirkungskreise zerstob der Gespensterspuk, der trotz der methodischen Hartnäckigkeit der Beteiligten keine greifbaren Resultate gezeitigt hatte. Der ziellose Hedonismus gewann wieder die Oberhand. Egon Erwin Kisch räuberte in den Spelunken der Halbwelt, Ferdinand Onno, der jugendschöne Schauspieler, der nun schon seit Jahren am Wiener Volkstheater wirkt, ließ sein schwermütiges Temperament im Grundwasser unserer Freudigkeit treiben und war beim Pokulieren und Unfugstiften einer der Ueberschäumendsten. Ich denke noch jetzt mit großem Vergnügen an die hurtig improvisierten Vorstellungen der „Räuber“, die wir zu später Nachtstunde einem Publikum verschlafener Kaffeehausgäste zum Besten gaben und die die Begabung Onnos für die Regie der Groteske reizvoll illustrierten. Max Oppenheimer, unser expressionistischer Gelbschnabel, gab mit hingebungsvollem Gemauschel den Spiegelberg. Amalia, die in den Niederungen des Prager Nachtlebens jeweilig entdeckte, beanspruchte fünf Gulden als Spielhonorar.

Die stilvoll verdunkelte Weinkneipe "beim Dallago" am Wenzelsplatze war in der Folge auch öfter Zeugin politischer Verbrüderungen. Tschechische Literaten, Maler und Theaterleute saßen in dem engen Raume friedlich auf derselben Bank mit ihren deutschen Kunstkollegen und vertrugen sich ausgezeichnet. Der tschechische Dichter Hladjk, der Kabarettkönig Hasler, der jüngst verstorbene tschechische Erzähler Jan Osten, der liebenswürdige Khol, der gegenwärtige Dramaturg des Nationaltheaters, gehörten zu den beliebtesten Stammgästen des schönen Lokals, dem der Krieg, wie so mancher andern Idylle, ein hastiges Ende bereitete. Von der Bohème, deren Nachfahren in den letzten Friedensjahren bei Vater Dallago ihren vereinsamten Schoppen tranken, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die neue Generation, vom Zeitgeist zum Ernste erzogen, steht mit beiden Füßen in einem Leben, dem spielerischer Ueberschwang ebenso fremd bleiben müßte wie ihrer Kunst. Franz Werfel und seine „Bande“, wie der Kaffeehausjargon seine zahlreichen Mitläufer bezeichnete, machte mit siegreichem Temperament kurz vor dem Kriege noch einmal die Nächte rebellisch. Mit ihm ist der Prager Bohème der letzte nachtfrohe Bekenner entschwunden; an den weinfeuchten Tischen, die vormals ihre unbestrittene Domäne bildeten, sitzen sie Schieber und ihre Kokotten.