Erstdruck in Prager Presse, 2. Jahrgang, Nr. 151, 4. Juni 1922,
Dichtung und Welt Nr. 23, S. 5 (oder 5-6?)

Spiritismus

Es war zu Beginn dieses Säkulums, in der Zeit, wo wir noch lebenshungrig jedem Flatterschatten nachliefen. Da war aus den niedergebrochenen Mauern der Judenstadt, die unsentimentaler Neuerungswille gerade damals dem Erdboden gleichmachte, ein Schwarm skurriler Gedanken aufgestiegen, der mit mittelalterlichen Problemen und magischen Rezepten die Köpfe verwirrte. Überall, in allen Gesellschaftsschichten Prags wurden Zirkel gebildet, die mit Tischrücken und Gedankenlesen die Abende verbrachten, Klopfgeister rumorten rebellisch in morschen Dielen und wurmstichigen Großvaterschränken und die ?Geheimlehre? der Vlavatsky war mit einem Male die Bibel wissenschaftlich interessierter Jugend geworden. Auch unsere junge Künstlergemeinde, die Dichter, Maler und Bildhauer im Grunde genommen ohne gemeinsame Ziele zusammenführte und die ihr Pulver bisher bei mehr oder weniger fidelen Atelierfesten verschossen hatte, ergab sich mit Haut und Haaren dem Okkultismus und ließ sich im Gespensterschifflein mystisch verballhornter Ideen willig ans Ufer verführerischer Gefühle treiben.
Das waren just auch die Jahre, wo wir mit Gustav Meyrink und seinem enthusiasmierten Anhang einen freundschaftlichen Verkehr begannen, der durch die seltene Persönlichkeit dieses Mannes zu unbedingter Gefolgschaft gesteigert wurde. Wenn ich heute, wo eine neue Welle parapsychischer Schwärmerein die ganze Welt durchflutet, wo die Apostel des Satanismus mit Frack und Monokel beim Vortragspult paradieren, wo das liebe Publikum an Hexenkünsten, telekinetischen Experimenten nicht genug kriegen kann, an unsere damaligen Bemühungen um das Reich der Geister zurückdenke, kommt hinter dem wissenschaftlichen Ernst, dem gruseligen Eifer, der uns beseelte, zuguterletzt doch immer der Übermut ungebändigter Jugend zum Vorschein. Zwar die Sache selbst interessierte uns mächtig. Der Fabeltrieb, der seit jeher irrende Sehnsucht ins Dunkle lockte, war von der Kette los und Meyrink, der in seiner Kaffeehausecke das metaphysische Gedränge mit sachlichem Gleichmut dirigierte, wußte wunderbar zu erzählen. Der Einfluß, der von ihm ausging, der nicht nur das literarische Prag, die Leute aus allen Sphären, Studenten, Kaufleute, modische Müßiggänger in seinen Bannkreis zog, war ungeheuer. Bemerkenswert war die Zahl seiner Feinde. Überall, wo man hinhorchte, tuschelte Geflüster, das seinen Namen, seine Geburt, seinen Lebenswandel verdächtigte. Es gab Kreise, die ihn am liebsten, einen modernen Sokrates, der Verführung der Jugend beschuldigt und wegen unsittlicher Lehren zum Tode verurteilt hätten. In einem Prozeß gegen ein Dutzend Infanterieoffiziere, der ungewöhnlich und maßlos Labyrinthe von Intrigen, einen Rattenkönig von Scheelsucht aufdeckte, stritt er heldenmäßig verzweifelt um seine Ehre. Blitzartig, zur Verwunderung Unbefangener, tauchten bei dieser Gelegenheit die gefährlich geschliffenen Waffen seiner Gedankenschärfe ins Licht. Eine Anzeige wegen betrügerischer Unterschlagung riß ihn jäh aus dem Geleise seiner behaglichen Existenz, brachte ihn mit Lumpen und Einbrechern zusammen in die Untersuchungszelle. Die Anzeige war haltlos, das Verfahren wurde eingestellt, aber der Haß, die bitterböse Erkenntnis, die während der Haft in ihm schwärten, finstere Gefängniswände mit glühenden Visionen bevölkerten, wirkten fort in ihm, gaben später den Kapiteln seines ?Golem?, seinen grausam-witzigen Schlüsselgeschichten Blutfarbe und Perspektive und machten einen großen Schriftsteller aus ihm. Der Prager Bankier, dessen Wechselstubengeschäft in der Jungmannstraße nach diesen Vorfällen natürlich ein Ende nahm, reifte an seinem Erleben zum Dichter.
Dieser Mann, den der Nimbus ungelöster, in vieldeutigem Zeremoniell erstarrter Geheimnisse umwitterte, der aus dem Sanskrit übersetzte, die Großmeisterschaft seltsamer, angeblich schon seit Jahrhunderten erloschener Orden besaß, dessen Weltläufigkeit bestach und verwirren konnte, war uns gerade recht, unsern hartnäckigen, am Mißerfolg nicht erlahmenden Versuchen auf dem Gebiete der Grenzwissenschaften die Folie zu geben. In dem behaglichen, bizarr möblierten Junggesellenheim des jungen Zavrel, der nachmals in Berlin als Theatermann und neuschöpferischer Regisseur von sich reden machte, im damaligen Prag aber vorläufig die etwas undeutliche, von keiner Seite ernstlich angezweifelte Rolle eines arbiter elegantiarum spielte, fand unsere buntgewürfelte Gilde zu Gesprächen und Sitzungen zusammen, die bei den parfümierten Zigaretten und den süßen Likören des geduldigen Hausherrn oft bis zum Morgengrauen währten. Zuweilen brachte jemand von uns ein konfuses Nähermädchen oder eine mediumistische Kellnerin geschleppt, die er auf nächtlichen Studienfahrten aufgestöbert hatte und der die Bleichsucht und Hysterie abwechselnd aus beiden Augen schaute. Das arme Ding, das sich mit williger Teilnahmslosigkeit in die erwartungsvoll geschlossene Geisterkette spannen ließ, erwachte gewöhnlich erst in den Pausen zu Interesse und Leben, wenn unser liebenswürdiger Wirt auf leckeren Schüsseln warmen Braten und Delikatessen reichen ließ und wenn die Wißbegierde zudringlicher ?Spiritisten? ihr allzu kitzlich an den Leib rückte.
Leider ist es uns trotz Ausdauer, mit der wir dieselbe Sache immer wieder von neuem angingen, trotz Meyrink und unermüdlich vertilgter Schnäpse niemals beschieden gewesen, ein sogenanntes ?physikalisches Phänomen? in der Nähe zu erleben. Der Tisch tanzte unter unsern inbrünstig aufgelegten Händen, das Geisteralphabet ließ leidenschaftliche Beschimpfungen und ordinäre Vokabeln gegen uns vom Stapel - aber dabei hatte es sein Bewenden. Das geöffnete Klavier im Nebenzimmer, die Harfe an der Wand blieben stumm, so hingebungsvoll wir auch lauschten, so gerne der Wunsch in jedem Falle der Vater der Melodie geworden wäre. Keine Gespenstermusik, kein Kuß - aus der vierten Dimension berührte unsere Stirn, keine Blumen aus der andern Welt fielen von der verfinsterten Decke. Und doch kann ich nicht sagen, daß die zwei Jahre, die unter nutzlosen Experimenten, widerspruchsvollen Informationen, kurzweilig vertanen Nächten zwischen unsern Fingern verrannen, ohne jeden positiven Gewinn geblieben wären. Mindestens vermittelten uns Studien dieser Art eine Liberalität der Kritik, die ohne sie allzu leicht geneigt gewesen wäre, Phantastischem und Unerklärlichem die reale Substanz abzusprechen. Und nicht zuletzt danken wir dieser Zeit die Bekanntschaft mit Menschen ungewöhnlichen Formats, deren Schicksale nachher bezeichnenderweise herausfordernd oft den Weg ins Absonderliche nahmen.
Was mag aus dem liebenswürdigen Dr. Schwarz, dem geistreichen Psychiater geworden sein, der unsere Versuche mit garantiert echtem Tempelhaschisch aus dem indischen Hausschränkchen Meyrinks liebevoll betreute und bei unsern Seancen den Spruch der Lateiner praesente medico nihil nocet zur Wahrheit machte? Er ist bald darauf außer Landes gegangen, blieb hartnäckig seither verschollen. Ein Gerücht beschenkte ihn mit ausgedehnten exotischen Latifundien, die ihm ein barbarischer Negerfürst als königliches Honorar überließ, dessen Tochter er mittels Magnetismus von einer Lähmung befreite. Wo ist Graf Resseguier, der blasierte Nachfahre eines österreichischen Adelsgeschlechtes , dessen goldene Tabakdose, dessen Reitgamaschen und dessen okkultistischer Spleen sichtbarlich imponierten? Eine alte Anekdote, als Lokalhistörchen pragerisch frisiert, machte damals über ihn die Runde, die seinen gleichmütig-noblen Schmiß nicht ungeschickt illustrierte. Ein junger Student, der sich im Restaurant durch die forschenden Fischaugen des Grafen belästigt fühlte, trat mit der zurechtweisend geschnarrten Frage an seinen Tisch: ?Mein Herr, Sie wünschen?!? - Darauf der Graf einen Augenblick gelangweilt die Lider senkte und zerstreut replizierte: ?Ich danke. Ich habe schon bestellt.? -
Wie mag es dem ?Opiumgigrl? ergangen sein, wie eine boshafte Zunge den kleinen Bankbeamten getauft hatte, der bei unsern Zusammenkünften so eifrig beflissen war, in ?Trance? zu geraten? Die chinesischen Giftkügelchen, die fremdländischen Betäubungspillen, die er unentwegt mit dem schwarzen Kaffee hinunterschluckte, haben ihm später hoffentlich nicht mehr geschadet und er besitzt gewiß noch heute wie ehedem die schöne Fähigkeit, im ?magischen Spiegel? tropische Landschaften, Karawanen im Sandsturm und tote Kamele zu erblicken. Nur Hugo Steiner, der nunmehrige Professor an der Akademie der graphischen Künste in Leipzig, machte ihm in diesem Belange den Vorrang streitig. Die klügelnde Phantastik, die ihn seitdem zu Deutschlands führendem Buchillustrator gemacht hat, nahm den Zweikampf mit den Geschichten des Opiumgigrls entschlossen auf und schlug sie aus dem Felde. Beschämt und gedemütigt kehrte dieses nicht lange darauf Europa den Rücken und bot seine visionären Talente jenseits des Ozeans einem Petroleumgeschäfte an. Mit welchem Erfolg ist zur Betrübnis der Zurückgebliebenen niemals bekannt geworden.-
Die Skepsis, das alternde Mißtrauen gegen Verstiegenheiten jeden Kalibers, haben das Bild dieser Jahre, wo wir im kameradschaftlichen Kreise unbefangener Neugier voll einen fröhlichen ?Spiritismus? trieben, absichtsvoll nachgedunkelt. Seine zitternden Schatten, seine ahnungsschwer verschwimmenden Tinten ganz zu verfinstern haben sie nicht vermocht. Der Sarg, in welchem Freund Zavrel sich manchmal in Wochen asketischer Einkehr zur Ruhe legte, das Totengerippe ?Mathilde? im Lehnsessel neben seinem Studiertisch, der Geist aus fleischfarbener Terrakotta, der im Turmzimmer Meyrinks in der kreisförmig gewölbten Wand verschwand, das niedliche Medium, das, zwecklosen Wartens müde, während der Sitzung plötzlich gutgläubig und tapfer zu fußeln versuchte, der magere Postbeamte, der sich daheim tagtäglich drei Stunden lang auf seinen Nabel konzentrierte, die Wissenschaft des Atems, die Mystik der Zahlen, Wahrsagerinnen und religiöse Gesänge im muffigen Hinterstübchen geistig entgleister Hausmeistersleute, alle diese Dinge, verschroben und eigensinnig, helldunkel und traumschön sind die reizvollen Inventarstücke einer Erinnerung, die ich mit all ihrem läppischen Zauberhumbug nicht missen möchte.