“Victor Hadwiger” Nekrolog, Nachlass Prag: Ts. und Deutsche Arbeit. Jg. XI. H. 6 v. März 1912, S. 398-400

Victor Hadwiger. (Gestorben am 4. Oktober 1911 in Charlottenburg.)

„Es muß schön sein, ein Haus mit einem Turm zu haben und in diesem ein kleines Fenster, das unmittelbar an den Himmel grenzt. Man öffnet des Nachts das Fenster und steht neben den Sternen.”
In dem Romane „Abraham Abt”, der vor einigen Wochen kurz nach dem Tode des Autors erschien, lesen wir diese Worte, die wie eine unerfüllte Sehnsucht klingen. Und doch sind sie das Einbekenntnis eines abgewandten Herzens, eines Einsamen, der uns im Überschwange ein Stück einer weltfremden, in sich gekehrten Glückseligkeit verrät. Wenn er nach leeren und verdrossenen Tagen eine Heimstatt suchte, wenn seine Schwärmerei in der frostigen Wirklichkeit ermattete, dann stieg er zuletzt die Treppen zu seinem heimlichen Turm hinan, dann öffnete er das Fenster und hielt seine Hände in die weite und goldene Nacht hinaus, die nur ihm gehörte, die bunt und glühend war vor Sternen.
Es war ein Auftrieb in ihm, der ihn in Höhen riß, wo der irdische Atem versagte, wo den Menschen die Angst befällt und das Heimweh nach der Erde. Darum empfand er auch deutlicher als die andern das brutale Gewicht, das ihn niederzog und beschwerte. Es ist deplaziert und es paßt nicht in unsere Zeit, wenn einer vom Schicksal eines Dichters reden will, von seiner Mühsal und seinen Kämpfen. Aber hier, an dem Leben dieses Frühverstorbenen gemessen, hier springt das Blut der Wahrheit aus der Phrase und das Klischee wird zum Bilde, das uns erschüttert.
Ein ewiges Gesetz bringt den Eigenen, den Einzelgearteten mit der Masse in Widerstreit. In das Dasein des Künstlers übersetzt, dessen Kunst auf abseitigen Bahnen geht, türmt es die Barikaden höhnischer Nichtigkeiten vor ihm auf und die graue, brave, nüchterne Täglichkeit will ihren Tribut. Das Gelächter der Buben hemmt seine Schritte und das feiste Schmunzeln phantasieloser Schmecker. Dann kommt der Hunger und nimmt das Talent in sein Schlepptau und schaut ihm neugierig über die Achsel, wenn es mürbe und gehorsam fruchtbar zu werden beginnt, 10 Pfennig die Zeile. Und das Talent ist gefügig und verdient seine Groschen.
Als Victor Hadwiger seine Heimat verließ, um in der Fremde zu wachsen, hielt das Geschick das alles für ihn bereit. Es züchtete einen Haß in ihm, dicht neben der großen und reinen Liebe, die ihn erfüllte. Es schleifte ihn durch spärliche und abgefeimte Jahre hindurch, wo der Zufall und sein Humor die einzigen waren, die ihn betreuten. Und als er Hand in Hand mit seinem Weibe endlich aus dem Gestrüpp in eine Lichtung trat, als er die Augen hob, um sein Werk zu betrachten, das er geschaffen, da schickte es tückisch den Tod zu ihm aus und fiel ihm in den Rücken.
Ich glaube, es wäre nicht in seinem Sinne, sentimentale Reflexionen anzustellen und Anklagen zu schmieden. Er war ein kosmopolitischer Geist, den alle Grenzen bedrückten. Daheim, in seiner Vaterstadt und in seinem Vaterlande, wo seine Anfänge wurzeln, hat er immer eine Gemeinde gehabt, die Großes von ihm empfangen wollte und geduldig Großes von ihm erwartete. Es ist nutzlos, mit dem Tode zu hadern. Es sei mir gestattet von ihm zu erzählen und an dem Schmerze über seinen Verlust die Erinnerung an die Zeit zu entzünden, in der wir ein Wegstück miteinander gingen.

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Sein Gesicht war ungewöhnlich und schön, kühn in der Extase, milde, wenn der Glanz seiner Augen es verwandelte. Steht es nicht auch im „Abraham Abt”, das Wort von den Kindergesichtern hinter den wildernden Bärten? Mehr wie die andern war er von seiner Berufung überzeugt und die katholische Lehre von der „Gnade”, die die Erwählten erleuchtet, war in dem Glauben an seine Sendung. Ein unzerbrechlicher Stolz, der Fanatismus des Schöpfers, tauchte seine Seele in eine hochgemute Lust. Und als im Jahre 1903 sein erstes Gedichtbuch erschien, dem er in spielerischem Selbstbewußtsein den programmatischen Titel „Ich bin” gegeben hatte, setzte er seinen Versen den Spruch des Aretino voran: „Wehrt mir die Ratten ab, ich bin gesalbt!”
Schon in diesem Buche, in dem eine grübelnde Lyrik noch manchmal vor dem eigenen Reichtum stockte, begegnen wir dem Profile seiner pantheistischen Ungebundenheit, schon hier stehen wir vor den Türen physischer und metaphysischer Rätsel, die er uns später mit geübter Hand zu entriegeln versuchte. Schon hier stoßen wir auf den Elan, auf das stürmische Pathos eines Ungebändigten, auf die Verwegenheit der Probleme, die die Merkzeichen seines Schaffens geblieben sind. Die letzten und tiefsten Dinge, der Tod und das Leben, Gott und die Ewigkeit irrlichterieren durch den Versband, verschlingen und entwirren sich und die Ironie, die mitunter hie und da die Begleitung mitsingt, vermag es nicht, die Kraft und die Jugend entfesselter Konfessionen zu zerstören. Aber die Philosophie, mit der Hadwiger auf seine Weise das Weltschema entzifferte, hat schon jetzt einen seltsamen, beziehungsreichen Beigeschmack. Neben dem flammenden Optimismus seiner sehnsüchtigen Wahrträume wuchert das böse und schmerzhafte Gewächs eines fatalistischen Witzes, der seine Nahrung aus den Erfahrungen und Erkenntnissen im zureichendsten Grunde pessimistischer Niederungen saugt. Da gibt es wunderbare, klare, und visionäre Stellen, Gedichte, in denen eine überlebensgroße Liebe zittert.
Du fragst mich, ob mein Herz licht sei
Wie der Morgen.
Ein Herz, das zur Sonne aufsieht - -
Und da gibt es spöttische Glossen und Satyren. Da sprechen die Verstorbenen zueinander vor dem „Gericht”:
Wir konnten uns nimmer und nimmer bezwingen
Vor Himmelstüren zu betteln, zu singen;
Wir sind auf die hohen Berge gestiegen
Und lernten fliegen.
Wir haben der Tat uns angetraut,
Wir haben den Turm zu Babel gebaut.
Wir lachten der Märchen, der Fabeln und Sagen
Und haben die Steine zum Bau getragen.

Weit über dem Gipfel der armen Welt
Da bauten wir uns das Himmelszelt.
Und über den Sippen, über den Horden
Sind wir zu einzelnen Menschen geworden.
Ließen sie drohen, ließen sie fluchen
Und weiter ihre Götter suchen.
Wir fanden Sterne, wir fanden Licht
Und lachten dem Herrgott ins Gesicht. - -

Es tröstet uns lustige Totenlaune
Über die Weltgerichtsposaune.
Da weiß man manch lustigen Schwank zu erzählen
Vom ehrlichen Verhungern und vom Stehlen,
Von der lieben guten Bescheidenheit,
Von dem Zuviel und dem Zuweit.
Da läßt sich erwägen und bestreiten,
Wie manchs gehalten in früheren Zeiten;
Da käme man zu dem Schlusse gar,
Daß man gar niemals glücklich war.
Man käme soweit und würde sich zanken,
Man käme da unten auf trübe Gedanken;
Wenn man den einen Trost nicht hätt',
Das lustig schmausende Würmerbankett. - -
Ein unverzeihliches Mißgeschick, das über vielen der späteren Arbeiten Hadwigers waltete, hat es gewollt, daß die Gedichte, die er in der Zeit nach dem Erscheinen seines ersten Buches schrieb, zum größten Teile im Manuskript verloren gegangen sind. Die Unzulänglichkeit und die Bedürfnislosigkeit in der äußeren Form, die seinen Erstlingen anhaftet, machte hier einer kunstvollen lyrischen Prägung Raum, wie sie vornehmer und grandioser nicht gedacht werden kann. In dem schmalen Zimmer des Altstadt, das Hadwiger als Student bewohnte, las er uns öfter diese Poesien vor, die den Flügelschlag großer, im Äther verschwebender Vögel hatten.
Nun hat ihn der Tod von Verlegersorgen, vom Ärger und Mißmut des literarischen Marktes befreit. Aber ich denke immer noch an den Kehrreim, der uns beiden damals aus irgendeinem Theaterstücke im Gedächtnis geblieben war, den er so liebte und der so schlecht und doch wieder gut zu seinem Leben und seinem Ende paßte. Wenn wir am Abende Arm in Arm durch das alte Prag schlenderten, rief er ihn manchmal in die dunklen Gassen hinaus, plötzlich und ohne Zusammenhang, mit einer Stimme, die aus einem heißen und gärenden Herzen kam, dem jedes Wunder noch das tägliche Brot bedeutete:
Wir fliegen der Sonne entgegen! Halleluja!

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Nicht alle liebten ihn in unserem Kreise, der damals uns junge Leute, maler, Schauspieler und Dichter zusammenschloß. Sein Wesen, das rücksichtslos ins Weite strebte, schien zuweilen scharf und kantig zu sein und er verstand nicht die Kunst, sich mit dem Kleingeld des Genütes Freunde zu werben. Seine Abneigung gegen Kompromisse, gegen Kleines und Dumpfes, gegen Stickluft und billige Rührung schlug öfters über die Stränge. Es ist nicht jedermanns Sache, den Zynismus zu begreifen, der eine Maske überquellender Keuschheit ist. In einem „Briefe an einen Freund in der Heimat”, der mir zugedacht war und der mir allzu verspätet erst neulich zukam, schreibt er zu Beginn:
„Du weißt, daß ein Brief, der Jahre übersprungen hat, Jahre der Verirrungen und Verwirrungen, die sich nicht nach Systemen einschachteln lassen wie die Völker der Insekten, - - Dunstjahre, - - Ausdünstungsjahre, - - Du weißt, daß ein solcher Brief nur eine Wehmut bedeuten darf. - - Nie wolltest Du den metaphysischen Haß mir verzeihen, der stets wie ein schillerndes Fettauge auf der gemeinsamen Suppe unserer Freundschaft schwamm, nie hast Du dieses Auge mir verziehn und es mit Deinem persönlichen Löffel ärgerlich fortgeschoben, wenn es vertraulich zu Dir hinüber wollte. Wie oft gerieten wir in Mißverständnisse ob dieses funkelnden Auges. Erinnere Dich nur, wie wir empört mit unseren Eßgeräten schlugen und feindselig in der Suppe stocherten. Du ob Deiner gekränkten Menschenliebe schwangst den Löffel wie einen Feldherrnstab des Friedens, und ich, mein metaphysisches Auge beschützend, erregte ärgerliche Wellen. - - -“
Sein Nachlaß, den berufene Hände ordnen, wird Vieles aufdecken und offenbaren, was unklar und widersprechend an ihm schien. Er war eine Natur, die achtlos auf die trüben Blasen des Lebens trat, weil er das Licht des Himmels zu sehr liebte. Er hatte ein Herz, das aus der ärgsten Bitterkeit nur strahlende Edelsteine formte.

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Jetzt hat er uns ein Buch beschert, dessen Aufnahme zu erleben ihm selbst nicht mehr vergönnt war. Den Roman des „Abraham Abt”. Funkelnde Brücken gehen hier von den Symbolen des Gewesenen zu den Bildern des Zukünftigen hinüber. Es ist ein erdumfassendes Buch, das von allen Dingen redet, die das Dasein bestimmen. Es ist ein Buch, das die gestaltlose Schönheit der Dichtungen hat, die Magisches und Prophetisches enthüllen. Ein Buch, das aus Schleiern gesponnen ist und den Bekenntnissen der „Erzähler”, aus deren Munde das gewaltige und abgründige, tiefe und süße Leben beichtet. Es ist das Buch des Wanderers, der die „Felsen” verläßt, um in den „Gärten” zu verweilen, der in der „Herberge” sein Angesicht in den Tränen des Mitleids badet, um sieghaft und trunken im Reich der „Sonnenuntergänge und der Sterne” zu landen.
Und der Tod, dem er an der Bahre Myriams die sieben Sonaten der Liebe dichtet, wird ihm zur Harfe:
„Goldene Worte hast du mir gegeben, verborgener Gott, um dieses einen Menschen willen, den ich liebte. Gehorchen will ich dir in dieser Zeit, die kommt, und meine Särge schichte ich zu Stufen und baue mich hinauf zu dir.”
Victor Hadwiger, du wackerer Baumeister, dessen Seele von Plänen und Zielen verdunkelt war, der du die Sonne suchtest und ein Grab gefunden hast, ich grüße dich!