Zum Auftritt der Marschallin im dritten Akt (Hollitzer-Band, S. 129 ff.) Warum erscheint die Marschallin im dritten Akt des Rosenkavalier im Beisl? Ihr Auftritt am Ende der Oper hat schon viele Interpreten verwirrt, eine typische Sicht, die in verschiedenen Variationen in den Folgejahren immer wieder geäußert wurde, vertritt Eugen Schmitz in seiner Rezension der Uraufführung in der Zeitschrift ›Hochland‹, Nr. 8 von 1911: »Freilich macht dabei der Dichter in der Entwicklung und dem Aufbau des Ganzen von den bezüglich der Wahrscheinlichkeitsforderungen im Komödienstil gegebenen Lizenzen sehr reichlich Gebrauch; das durch nichts motivierte plötzliche Erscheinen der Marschallin als deus ex machina zur Schlichtung der nächtlichen Tumultszenen im Wiener Beisel weist schon fast auf das Operettenniveau hin.« Aber ist der Auftritt tatsächlich unmotiviert? Ist sie wirklich eine »dea ex machina«, die unvermittelt eintritt, um die Lösung eines Konflikts herbeizuführen? Die 1986 erschienene Kritische Ausgabe, in der erstmals die Genese der drei autorisierten Drucke – Buchausgabe, Partitur und Libretto – dargestellt wurde, konnte Licht ins Dunkel bringen, indem dort die Rolle des Ochs’schen Leiblakais in den drei Endfassungen gegenübergestellt wurde: In der Hofmannsthalschen Buchausgabe wird der Leiblakai im dritten Akt überhaupt nicht aktiv. In der Partitur hingegen hat er am Ende der Oper eine zentrale Funktion: Er verlässt die immer heikler werdende Szene, tritt seinem Herrn selbstzufrieden gegenüber, nachdem die Marschallin das Beisl betreten hat, und erhält vom Baron im Anschluss »Zeichen seiner Zufriedenheit«. Das Libretto ist bezüglich des Leiblakais verwirrend, denn es enthält nur einen Teil der Regieanweisungen aus der Partitur: Die erste Anweisung, wo er den Einfall hat, wie er seinem Herrn helfen könnte, fehlt, hingegen ist die zweite Regieanmerkung, seine Selbstzufriedenheit beim Auftritt der Marschallin, enthalten. Doch wie kam es zu diesen Unterschieden? Für den rettenden Einfall des Leiblakais lässt sich aus den Typoskripten und darin enthaltenen handschriftlichen Einträgen Folgendes rekonstruieren: Im typierten Strauss’schen Handexemplar, das dieser für die Abfassung der Partitur verwendete, ergänzte Hofmannsthal die entsprechende Regieanweisung handschriftlich:
In dieser Form ging es später in die Grundschicht des Typoskripts der Libretto-Druckvorlage ein, wo Hofmannsthal die entsprechende Stelle dann aber strich:
In der Kritischen Ausgabe (S. 479, Z. 35-40) sind diese Textveränderungen in der Synopse wie folgt dargestellt:
Die Kritische Ausgabe hebt jeweils die Änderungen in der Genese hervor, weist ihnen durch die Sigle einen relativen chronologischen Stellenwert zu und markiert den Text der Schlussdrucke: In einer Liste werden alle Siglen im Detail beschrieben, also die relative Chronologie präzisiert und auch der materielle Aspekt dargestellt: 49 und 50 gehören demselben Überlieferungsträger an, dem typierten Strauss'schen Handexemplar, das im Januar 1910 entstand (Sigle 49: Grundschicht) und handschriftliche Einträge von Hofmansthal enthält (Sigle 50). Sigle 83 weist auf die Änderung Hofmannsthals in der typierten Libretto-Druckvorlage (Sigle 79) hin, die die ehemals nachgetragene Regieanweisung für das Libretto eliminierte. Die Folge ist: Die Hofmannsthalsche Buchausgabe folgt der ersten Absicht, wie sie in der Grundschicht des typierten Strauss'schen Handexemplars vorliegt. Es ist zu vermuten, dass der handschriftliche Nachtrag zum rettenden Einfall des Leiblakais auf einen Wunsch von Strauss zurückging, der sie entsprechend in seine Partitur aufgenommen hat. Das gedruckte Libretto hingegen enthält die Regieanweisung nicht, da sie in der Druckvorlage ausdrücklich gestrichen wurde. Für die weiteren Regieanweisungen den Leiblakai betreffend ist die Überlieferungslage verwirrender, da der Auftritt der Marschallin eine Nahtstelle darstellt, Hofmannsthal die Szene nach ihrem Auftreten mehrmals überarbeitete. Es liegen vor: (1) Typoskript-Seiten aus der ersten Fassung des dritten Akts (Sigle 49), in die Hofmannsthal nachtrug, dass der Leiblakai abstürzt und dann mit der Marschallin zurückkommt (Sigle 50). (2) Die Folge-Seiten gehören einer späteren Fassung an (Sigle 60). Hier stehen deshalb die Regieanweisungen zum Erscheinen des Leiblakais zusammen mit den Anweisungen zur Marschallin in der typierten Grundschicht.
Beide hier gebotenen Typoskript-Seiten lagen dann dem Schreibüro als Vorlage für das Erstellen der Libretto-Druckvorlage vor, und dieses übernahm so zweimal den Hinweis auf den Leiblakai in die Grundschicht des neuen Typoskripts:
Bei der Schlusskorrektur strich Hofmannsthal die erste Regieanmerkung, da er – wie seine Buchausgabe zeigt – für das Erscheinen der Marschallin keinen äußeren Anstoß für nötig erachtete, seine Sicht der Figur war subtiler. Allerdings übersah er die Doppelung der Bühnenanweisung, die deswegen auch heute noch im gedruckten Libretto zu finden ist, dort aber keinen Sinn mehr ergibt. In der Kritischen Ausgabe wird auf die textlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang des Erscheinens der Marschallin ausführlich eingegangen, weshalb die oben gebotenen Stellen auf verschiedenen Seiten in synoptischer Darstellung geboten werden: (1) S. 488, Z. 17-22
49: Typierte Grundschicht des Strauss'schen Handexemplars (2) S. 511, Z. 26-37
60: Typierte Grundschicht des neuen Strauss'schen Handexemplars
|