Das Hauptanliegen der Kritischen Ausgabe ist die Darbietung der Genese des Rosenkavalier. Sie bietet deshalb die verschiedenen Arbeitsstufen, von den Herausgebern »Stadien« genannt, in chronologischer Abfolge. Insgesamt konnten sie 88 solcher Stadien feststellen. Nicht als Stadium bezeichnet wird die nur in den Tagebüchern von Harry Graf Kessler enthaltene Skizzierung des Gesamtablaufs der Oper. Die Zählung beginnt mit der ersten Hofmannsthalschen Niederschrift eines Szenariums. Das letzte Stadium (also Stadium 88) ist die gedruckte Ausgabe des Librettos.

Zwei Arten von Überlieferungsträgern lassen sich bei der Analyse der Textgenese des Werks unterscheiden: die frühen Hofmannsthalschen Entwürfe und Niederschriften, die stark voneinander abweichen und deshalb in ihrer Gesamtheit geboten werden, und die späteren Reinschriften, Typoskripte und Manuskripte, die sich weitgehend entsprechen und deshalb nur in ihren wesentlichen Unterschieden in einer Synopse gegenübergestellt werden.

Die in der Liste der Überlieferungsträger jeweils hinterlegten Angaben geben für jedes Dokument an, wo in der Kritischen Ausgabe die genaue Beschreibung und der Lagerungsort nachzulesen und auf welchen Seiten der Wortlaut des Textes zu finden ist.

Im Folgenden werden exemplarisch die zwei verschiedenen Darstellungsweisen innerhalb der Kritischen Ausgabe erläutert:

Darstellung von frühen Entwürfen und Niederschriften

Bei der Umsetzung des Schriftbilds einer Handschrift in den Druck wird vorhandene Varianz mit Hilfe von Stufungen und diakritischen Zeichen dargestellt.
• Beim stufenden Verfahren ersetzt der Text hinter einer (2) den vorher unter (1) dargestellten; Entsprechendes gilt für Stufensymbole wie (a), (b), (c) etc.
• Ein pfeilbedeutet, dass zum Zeitpunkt der Variation Folgetext bereits vorhanden war, dessen Einsetzen jeweils nach einem Grenzzeichen | beginnt.
• Ersatzlose Streichungen werden mit eckigen Klammern, z.B. [Vetter], angezeigt.
• Für Ergänzungen wird ein stilisiertes Einweisungszeichen benutzt, z.B. galgen

Beispiel 1

Erstes Szenar, Akt 1:

stad1

Die Darstellung im Druck:

stad1trans

 

Beispiel 2

Erstes Szenar, Akt 3:

erstes

Die Darstellung im Druck:

stad1b

 

Darstellung von Überlieferungsträgern mit weitgehend identischem Text

Reinschriften, Typoskripte und die dann folgenden Manuskripte von Strauss entsprechen sich weitgehend. Deswegen werden sie nicht wie die frühen Dokumente für sich geboten, sondern nur ihre wesentlichen Unterschiede an den betreffenden Stellen nebeneinandergestellt, um variierenden Wortlaut deutlich hervortreten zu lassen.

Auch Änderungen in diesen Überlieferungsträgern (z.B. die Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen oder Ergänzungen) werden auf diese Weise in die Synopse aufgenommen. Da alle Unterschiede auf eindeutig chronologisch fixierbare Arbeitsstufen zurückgehen, werden diese Stufen jeweils am Anfang einer Textstelle durch Nennung der Stadienzahl angeführt. Um die Textunterschiede zwischen den drei Endfassungen der Oper (Buchausgabe, Partitur und Libretto) in der Synopse leicht lesbar zu machen, wurde die Stadienzahl der Buchfassung durch Unterstreichung gekennzeichnet und der Text der Partitur halbfett gesetzt. Hinter der jeweils letzten Stadienzahl innerhalb einer Variantendarstellung erscheint der Text des Librettos.

Die folgenden Beispiele stammen aus dem Anfang der Zusammenarbeit zwischen Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss.

Hofmannsthal hatte mehr oder weniger die Niederschrift des ersten Aktes fertiggestellt und gleich mit dem zweiten Akt begonnen, statt zuerst das Fertige zu diktieren. Strauss wartete aber ungeduldig und Hofmannsthal entschloss sich, von der ersten Szene eine Reinschrift herzustellen, um seinen Komponisten nicht länger warten zu lassen. Dann erst wurde der Anfang und das Ende von Akt 1 diktiert, anschließend die Mitte beendet und diktiert und dann am zweiten Akt die Arbeit fortgesetzt. Strauss war glücklich und füllte die Reinschrift der ersten Szene mit Notenskizzen und kleinen Textänderungen.

Die Reinschrift ist Stadium 5, die Strauss'schen Notate darauf sind Stadium 6. Das Typoskript ist Stadium 7. Alle sind Teil der Synopse in der Kritischen Ausgabe.

Erstes Beispiel:

Reinschrift (Stadium 5)

5

Typoskript, Arbeitsexemplar von Strauss (Stadium 7)

stad7

Synoptische Darstellung in der Kritischen Ausgabe

kha5a

Sigle 5 und 7 zeigen die Abweichungen zwischen Reinschrift und Typoskript an. Der Halbfettdruck weist auf den Wortlaut der handschriftlichen Partitur von Strauss hin, die Unterstreichung der Sigle 7 ist Hinweis auf den Text der Hofmannsthalschen Buchausgabe.

Zweites Beispiel:

Reinschrift (Stadium 5)

b

Die Ergänzungen von Strauss mit Bleistift (Stadium 6) erscheinen auf dem Faksimile kaum lesbar in sehr heller Schrift.

Typoskript, Arbeitsexemplar von Strauss (Stadium 7)

7bts

Die Ergänzungen mit Rotstift stammen von einem Redakteur, der die Aufgabe hatte, das Typoskript der Strauss'schen handschriftlichen Partitur anzupassen. Es entstand zu einem späteren Zeitpunkt und trägt die Stadienzahl 44.

Synoptische Darstellung in der Kritischen Ausgabe

kha5b

 

Strauss hatte auf der Reinschrift in Stadium 6 ergänzt: »Ich liebe Dich!« und änderte dies in der handschriftlichen Partitur dann zu »(sehr innig) Ich hab dich lieb! (Umarmung)«.

Das Typoskript (Stadium 7), das Strauss als Handexemplar gedient hatte, wurde anschließend als Druckvorlage für das Libretto vorbereitet, und ein Redakteur erhielt den Auftrag, den typierten Text mit der handschriftlichen Partitur zu vergleichen und die von Strauss während der Verfassung der Partitur vorgenommenen Textänderungen dort einzutragen. Im vorliegenden Fall geschah dies aber nur unvollständig: das Wort »Umarmung« wurde ausgelassen (Stadium 44).

In die Buchausgabe wurde all dies nicht aufgenommen, wie die unterstrichene Sigle 5 anzeigt. Die Partitur und der Klavierauszug enthalten alle von Strauss vorgenommenen Ergänzungen, hervorgehoben durch den Halbfettdruck. Das Libretto entspricht der Partitur mit Ausnahme der durch den Redakteur ausgelassenen Regieanmerkung »Umarmung«.

 

Weiteres Beispiel: Das Liebesduett im zweiten Akt – eine musikalisch bedingte Erweiterung?