Peter von Malinckrodt.Ein machtvoller Gesang der Ohnmacht. In: Matrix. Zeit-schrift für Literatur und Kunst. Nr. 3 v. 2023, 175-179. [Besprechung von Gisela Hemau. Fallraum. Gedichte und Prosaminiaturen. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2023.]

Rechtzeitig zu ihrem 85. Geburtstag ist mit Fallraum der achte Band Gedichte von Gisela Hemau erschienen. Mehr noch als bei den früheren Werken der Bonner Lyrikerin [vgl. Matrix Nr. 61 (3/2020), S. 168) deutet ein Programm an, das den Inhalt, die Form und die Bauweise der Texte betrifft.

Ein Blick in den Duden genügt, um Aufschluss über den Reichtum an Sinn-Intentionen von Fall sowie von Raum zu geben, der mit dieser einfachen Fügung aufgefächert ist. Sie berührt das Universum als die räumliche Bedingung der Möglichkeit des Fallens (Gravitation), oder noch abstrakter die Welt, die alles ist, was der Fall ist. Sie streift den Spielraum, den alles Fallen benötigt, aber auch das Hohe Gericht, in dem Fälle verurteilt werden, und dann den mythischen Raum, in dem Sturz und Verlust des Ikarus sich ewig wiederholen. Es geht um das Fallen, das, so möchte man Rilke zitieren, »in allem« ist. Dabei enthüllt das Bändchen sich als ein machtvoller Gesang von der Ohnmacht, der sich im Spiel (s.u.) hält. Dieses fundamentale Paradox der Kunst der Klage ist sein Hauptgegenstand.

Im letzten Gedicht des Bändchens scheint das in der Überblendung von Ikarus, auf den der Titel Nach dem Absturz anspielt, und dem ausgelieferten Prometheus zu kulminieren: Ringsum die Berge / Er der ist und nicht ist / schickt als Boten die Vögel / Sie krallen sie bohren sich / in mich hinein / Der Schmerz führt zu ihm / Immer unwirklicher mein Körper / ein Schattenkörper / nicht stehend nicht gehend / zurückgeworfen von der / Unzugänglichkeit des Lichts / Und dann das Weiß.

Schon das erste Gedicht Tombeau de Gertrude Stein hat die Katastrophe im Blick. Es ist eine Hommage auf die für ihr modernistisches Spiel mit Worten stehende Gertrude Stein und spielt ebenso mit Worten. Bei Gisela Hemau gehören Wortspiele zu den häufig verwendeten Verfahren ihrerb manchmal hermetischen, manchmal geradezu schockierend eindeutigen, aber immer musikalischen und bis zum intertextuellen Pastiche getriebenen Kompositionen. In diesem ersten Gedicht vermittelt das Spiel mit Worten zwischen den Polen Versteinerung, Auflösung, Scheinhaftigkeit, und Kommunikationsbegehren. Die erste Strophe beginnt damit, dass sie die Anrufung des Wortes selbst durch Gertrude Steins berühmte Wiederholung der Rose (oder der Rose), die man wohl als eine der Geburtsurkunden der Moderne des 20. Jh. betrachten darf, gerade nicht wiederholt. Vielmehr wird dem (Namen) Stein das harte T entzogen, sodass er zu Schein wird, während die Versteinerung in die Repetition der Rose auswandert. Das Gedicht löst die Erstarrung mit einem Ruf ins Offene auf: es sollen Leute kommen, Leute: die Zunge dabei am Gaumen: sollen, und die Lippen aufeinandergelegt: kommen. Mehr als nur das Spiel mit Wörtern wollen wir hier eine Alchemie der Wörter und der Klänge heraushören. Ein Schein / ist ein Schein / und ein Nichts / das aufbricht / und glüht / jenseits der / steinschweren / Rose // Tot der Salon und sie in einem Sessel / als Gespenst / Die eigenen Wortmusiken abgelegt / in den Regalen / Sie will ihren Körper wieder haben / und wo ist Alice / Und bitte ruft Picasso / damit er das Portrait aufs Neue malt / Und Leute sollen kommen Leute (Tombeau de Gertrude Stein: 9) Von da aus entwickelt sich in insgesmt 70 Gedichten ein Netz von Bezügen zwischen den Elementen Licht, Wasser, Luft, Erde und dem verletzlichen, begehrten und geschmähten Leib, der im Zentrum steht. Die Verflüchtigung der Fülle, aber auch der Härte, in das Licht, diese Spannung zwischen abstraktem Ich und abstraktem Nichts, (die Titel und Hülle konkreter Schmerzen sind) findet sich als Bewegungs- und sozusagen Schicksalsmotiv in den dichten, (kurzen und komplexen) Texten des Büchleins immer wieder.

Im zweiten Gedicht scheinen wir den Leuten erneut zu begegnen, es sind die Freunde. Und nun sind sie es, die Rufen. Sie raten uns, wie davonzukommen sei: Im Unterwasserlicht / undeutlich die Freunde von einst / Sie rufen mir zu:// Wenn wir im Traum einander / durchschwimmen / kommen wir als Fische davon

Gleichsam mit einem Paukenschlag tritt dann die Stille auf oder ins Bewusstsein, die doch längst herrscht. Dabei verbirgt ihre Plötzlichkeit, ob es sich in der folgenden dritten Strophe um einen Gegensatz oder um eine Konsequenz handelt: Kein Puls kein Wellenschlag / Am Grund / gehäuft wie Abfall / die Stille. (Der Fluss: 10) Da ist er, der Schlag, tatsächlich als etwas, das fehlt, wenn auch nur der weiche Schlag des Wassers oder Pulses, im Gegensatz zu dem oder, wieder unklar, in Übereinstimmung mit dem am Grund sich gehäuft findet, was doch das ganze Gedicht in jedem Moment aussagt: die Stille. Diese sei wie Abfall. Etwas, was sich zwischen Abwertung und Abtrünnigwerden (also Auflehnung) spannt und dadurch dem Fallraum des Titels das Merkmal des Offenen hinzufügt, das auch ein Fluchtraum sein könnte.

Nur wenige Seiten weiter treffen wir auf eine konkrete Szenerie, die zeigt, wie wenig das ist, womit man auskommen muss: Den Wind draußen kenne er nicht / er kenne nur dieses zugige Treppenhaus / Nie öffne sich ihm eine Wohnung / Während er die Treppen auf-ab sich tastet / dehnten sich nach Maßgabe seines Atems / die Stufenabstände / und zögen sich wieder zusammen / Doch jeder Luftzug jeder fremde Schritt / verändere die Tonfolgen einer Musik / von der er wisse, dass es sie gebe / aber er höre sie nicht. Die Stille, von der die Rede ist, ist ein Hallraum, so der Titel des Gedichts.

Das Bändchen gliedert sich in fünf Gruppen, deren erste dem schwindenden Licht gewidmet ist (Dämmerlicht), die zweite der Einsamkeit der Körper (Schattengeleit), die dritte dem Kommen und Gehen und seinen unsichtbaren Bruchstellen (Die Bruchstelle nicht sichtbar, die vierte der Liebe und den Obsessionen (Die farbverwischten Wege) und die fünfte der Reflexion in der Schrift (Und dann das Weiß).

Durch die Gitterstäbe der konventionellen Semantik des Gefühls hindurch werden neue, bzw. wahrere, weil widersprüchliche, vielpolige Gefühlswelten ertastet und ihre Körperlichkeit erforscht in oftmals lang ausschwingenden, manchmal den ganzen Gedichttext umgreifenden Satzgebilden. Ihre melodiös und rhythmisch polyphonen Kombinationen aus gleichsam opalisierenden Substantiven und vorwärts treibenden Verben bilden Netzte, die – zuweilen mit beißendem Witz – nach dem giftigen Stoff suchen, aus dem das Leben gemacht ist. Mit grimmigem Humor heißt es: Der Ophelienschimmer in ihrem Haar / immerfort muss sie dieselbe Ertrunkene / spielen / Hamlet dagegen wechselt seine Gestalt / beliebig / er kann sich darauf verlassen / dass sie ihn erkennt / in jedem Wasser. (Randfigur: 47) Oder: Zwischen den Bäumen / er der Wiedergänger des Traums / Er reicht mir eine Handvoll Laub / Gut für die Augen sagt er / zeigt seinen skelettierten Leib / und sein Geschlecht / Nur eine Maskierung sagt er / Als Tod käme er erst danach. (Im Park: 53) Ich lese sie erkennt ihn in jedem Wasser als trockene Ironie in Bezug auf die condition féminine und als Tod käme er erst danach ist präpotente Prahlerei. Man hat sich selten so elegant erledigt gesehen./p>

Dazu passt das verwirrende Gedicht Im Liebesgarten (65). Der Leser mag zunächst an ein Missverständnis des Danae-Mythos glauben. Goldregenbäume: die Hinterlassenschaft der Danae / Sie hören den Wind nicht, der sie biegt und beugt / Und nicht den Regen, der ihre Jahrringe notiert / Hochgiftige Verführerinnen / mit Ohrringen golden gelb und grün behängt / halten sie sich selbst im Spiel funkelnd und brennend. Der Name der Danae evoziert eine der sattsam bekannten Affären des Zeus. Deren Bekannteste ist die eher züchtige, notenbakfähige Europa, sodann die Leda, deren Schwan dem Barock die (erotische) Ikonographie der Serpentinata-Kurve ermöglicht oder Yeats »the shudder of her loins«. Mit der Danae unter dem Goldregen tendiert seit der Renaissance die Darstellung der mythischen Erfolge des Zeus endgültig zur Obszönität. (So weit die Handbücher.) Aber was hat es dann mit der Hinterlassenschaft der Danae auf sich? Das klingt wie ein Geschenk, etwas, was bleibt, wenn jemand gegangen ist, vielleicht so wie das Pferd, das die Griechen, die sich die Danaer nennen, den Trojanern hinterlassen haben? (Mythologisch dazwischen angesiedelt und gendergerechter wäre etwas wie das Gewand des Nessus denkbar.) Überblendet die Autorin diese beiden Mythen, den der Danae und den der Danaer und verkehrt damit die Geschichte der passiv Heimgesuchten ins Gegenteil? Hochgiftige Verführerinnen heißt es (die Schoten des Goldregens können schon in kleinen Mengen, unmerklich zuerst, tödlich sein). Mit Ohrringen golden grün und gelb behängt halten sie sich selbst im Spiel funkelnd und brennend. Ist es das, was das Gedicht tut? Wofür es seinen Spielraum (Fallraum der Silben, Hallraum der Töne) nutzen kann?

Aber was diese Gedichte an Fällen bereit halten, ist mit dem Blick auf Silbenfall und Klang nicht ausgereizt. In der letzten Gedichtgruppe wird das Gedicht reflexiv und warnt vor sich selbst als dem Ort, auf dem der Rückzug vor den zuvor beschworenen Schrecken möglich wäre, wenn nicht auch er als Bleibe prekär wäre: Diese / 7x2-Wörter große / Wortliegenschaft / ist nicht betretbar / Jenseits / der Buchstaben / ist sie ein Nichts (Ohne Haftung: 91) Zugleich aber will es das Paradox des Schreibens, dass das Gedicht sich in eben dieser Negativität aufs Neue behauptet, nämlich in dem durch Buchstaben bezeichneten Raum diesseits des weißen Nichts, der offenbar kein Fallraum ist, sondern eine Liegenschaft. Nur dass deren Eigentümer nicht für sie haften mag, weil sie keine sichere Bodenhaftung bietet.

Diese Liegenschaft, die man also nur auf eigene Gefahr betritt, ist der Ort des Baschließenden Sphinx-Rätsels und Paradoxes, mit dem der Leser aus dem Büchlein entlassen wird: Auf der Straße / drei aeltsame Leute / Sie sagten sie wären nur zwei / Wenn ich nit ihnen ginge / wäre ich keiner / Und sie wären eins. (Verrätselt: 96) Dieses Gedicht scheint eine Strukturformel zu liefern. Dabei ist nicht erst das Paradox interessant, sondern schon die Vierheit, statt der Dreiheit (wie bei Freud oder in Kafkas Milena-Briefen). Ohne das lyrische Ich sind da drei, die bitten es als das Vierte zu sich, wodurch sie (zu zweit oder zu dritt, beides ist möglich) eins werden und das Dritte oder Vierte überflüssig (als Person) oder zunichte (als Selbständiges) wird. Das kann man als abstraktes Gestaltgesetz oder als Konstellation realer Personen verstehen. Man kann nachvollziehen, dass da am Anfang drei sind, die sagen, dass sie zwei sind (will sagen, jedes betrügt sich damit, dass sie zwei sind, entweder, weil es sich selbst übersieht oder das Dritte) und ein Viertes hinzubitten, damit sie eins werden, z.B. indem sie sich miteinander zusammenschließen können. Spekulation ist, ob das Vierte (als Beobachtendes) eigentlich das Dritte (als Teilnehmendes) war, das nach dieser Operation verschwindet. Entscheidend ist, dass im Gegensatz zu dieser Verwirrung im Gedicht das Gedicht selbst (das die Wahrnehmung des lyrischen Ichs manifestiert) klar (formvollendet) ist, es ist das Vierte, das entsteht und hinterlassen wird, wenn das Dritte zuerst verkannt und dann überflüssig wird. Wie oben in der als Abfall abgewerteten Stille und wie in der Hinterlassenschaft der Danae oder der gefährlichen Wortliegenschaft bezeugt sich im Rätsel der seltsamen Leute der einzigartige Akt poetischer Selbstbehauptung. Das Vierte ist das lyrische Ich, das sich aus der Rolle des (uuberflüssigen oder geleugneten) Dritten wegdissoziiert, um in seiner Rolle als Garant der sprachlichen Form (des Gedichts) für die prekäre Dreiheit (z.B. Vater, Mutter, Kind) unsichtbar zu werden und sich in Gestalt dieses Gedichts selbst zu ermächtigen. Das Gedicht ist im wörtlichen und übertragenen Sinn eine Abrechnung. Und das gesamte Werk ist ein an Fallen und Paradoxen reiches Universum am Rand der Katastrophe, das sich kunstvoll im Spiel hält. Es zu betreten lohnt sich unbedingt.

Peter von Mallinckrodt, *1950, in Euskirchen, Studium der Philosophie, Germanistik und Allgemeine Sprachwissenschaft in Göttingen und Bonn, danach wissenschaftlicher Mitarbeiter, Referendar, Jugendreferent, Gymnasiallehrer in Bonn.