»Jung-Prag« und die »Frühlings-Generation«

Warum zwischen »Jung-Prag« und der »Frühlings-Generation« differenzieren? Wer nannte sich wie? Die Verwirrung besteht sicherlich und nicht nur in der Wikipedia, die heutzutage (ob man es begrüßt oder nicht) die Hauptinformationsquelle für viele ist (und nicht nur für Laien und Studenten). Dort steht (Version vom 20. Februar 2012) beim Stichwort »Prag«:

Um 1900 war das nach außen weltoffene Prag ein Treibhaus für Künstler und nachwachsende Literaten. Allein drei Dichterkreise wetteiferten miteinander: Den engeren Prager Kreis bildeten Max Brod, seine Freunde Franz Kafka, Felix Weltsch und Otto Baum. Der Verein „Wefa“ umfasste viele Autoren, die heute kaum noch bekannt sind, wie Friedrich Adler. Einem anderen Verein, dem neuromantischen Kreis Jung-Prag, gehörten zum Beispiel Rainer Maria Rilke, Gustav Meyrink, der beruflich in Prag zu tun hatte, und der junge Franz Werfel an.

Dass es »Otto Baum« statt »Oskar Baum« heißt, ist nur einer der Fehler. Vollkommen unverständlich ist, was mit dem Verein »Wefa« gemeint ist.

Es ist sehr verführend, da irgendwie so einleuchtend, die Literaten zwischen den Alten Herren der Concordia (zuerst Alfred Klaar, dann Friedrich Adler und Hugo Salus ) und dem Freundeskreis von Max Brod, den Brod in seinen Erinnerungen als den »engeren Prager Kreis« bezeichnete (Prager Kreis, S. 36), »Jung Prag« (mit oder ohne Bindestrich) zu nennen. Und fast alle Wissenschaftler, die über diese Zeit schrieben, haben dies irgendwann einmal getan (siehe den unvollständigen Überblick). Zum Beispiel bemerkt Hartmut Binder in seiner Monographie zu Gustav Meyrink: »Wann genau Meyrink mit der literarischen und künstlerischen Avantgarde Prags, die sich unter der Bezeichnung Jungprag zusammengefunden hatte, in Berührung kam, läßt sich nicht mehr genau bestimmen, doch spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß er spätestens im Lauf des Jahres 1900 zu diesem Kreis gestoßen sein muß, und zwar gewissermaßen als Nachzügler.« (Meyrink, S. 237) Er beruft sich dabei auf den Artikel »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« (1918) von Paul Leppin, der in den folgenden Abschnitten voll zitiert werden wird (halbfetter Druck) mit erläuternden Erklärungen und Einblendungen anderer Zitate (Normaldruck), um zu versuchen, einen (zumindest aus Leppins Sicht) detaillierteren Überblick der Literaturszene dieses Zeitabschnitts zu geben und dabei dem Begriff »Jung-Prag« nachzugehen. Leppin schreibt (Schriftstellerkolonien • VIII • Prag):

Vor einigen zwanzig Jährlein schlossen sich die ungebärdigen Elemente der eingeborenen Dichtergilde unter der Bezeichnung „Jung-Prag” zusammen. Bisher war der Betrieb ein etwas fossiler gewesen; die „Concordia”, der Sammelverein aller Kunstbestrebungen, residierte noch in ungeminderter Herrlichkeit, protzte mit unbeweglichen Bonzen, die bei feierlichen Leseabenden, wenn die spärliche Jugend zaghafte Lyrik gestammelt hatte, Dichter ersten und zweiten Grades ernannte. Mein Gedächtnis enträt hier einer persönlichen Stütze. Ich kenne diese Zeit nur vom Hörensagen und weiß nur, wie mein Gymnasiastengemüt in Wallungen kam, wenn damals etwa der aufgehende Stern hiesigen Schrifttums, Hugo Salus, auf der Promenade erschien und seine Verehrer mit zierlicher Hutschwenkung begrüßte, oder wenn ich in den „Larenopfern” des Rainer Maria Rilke, des jüngsten Gelbschnabels der „Concordia”, dem lieblich kolorierten Bilderbogen der Heimat wiederbegegnete. Im übrigen scheint das literarische Leben tatsächlich auf die oben erwähnten Funktionen einiger Olympier beschränkt geblieben zu sein; der Nachwuchs, der dieser Epoche entstammte, gab nur verdrießlich widerwillige Berichte.

Als »Jung-Prag« sich formierte, drückte Leppin (wie er anmerkt) noch die Schulbank zusammen mit »Namin Alcoffi, der in der dritten Bank an der Ecke saß und hauptsächlich während der Griechisch-Stunde dichtete.« (Prager Literatur vor drei Jahrzehnten) Dieser Dichter und Freund Leppins war Camill Hoffmann. Beide bewunderten Rainer Maria Rilke, dessen Gedichte bei den »schöngeistige[n] Spießer[n]« lediglich ein »Kopfnicken« bewirkte. »Nur wir Buben, die wir eben mit Ach und Krach die Hürde der Matura genommen, waren von seinen Gedichten im Herzen berührt«. (Prager Literatur vor drei Jahrzehnten) Die Matura war Frühjahr 1897 erfolgt, wie Anstellugsdokumente der k.k. Post- und Telegraphendirektion belegen. Leppin war 18 Jahre alt. In seiner Selbstbiographie bemerkt er zu dieser Epoche (Prager Rhapsodie. Neuausgabe, S. 180.):

Nach der Matura trat ich in den Staatsdienst ein. Unversehens geriet ich eines Tages in den überschäumenden Wirbel eine Boheme, die damals die Prager Nächte unsicher machte. Sturm und Drang so erworbener Erlebnisse führten mich endgültig zur Literatur, der ich schon früher, als halbwüchsiger Adept, sehnsüchtig verfallen war.

Etwas ausführlicher ist er in dem Artikel »Meine ersten Dichterjahre«:

Erst nach der Matura erschien mein erstes Gedicht in einer Breslauer Monatsschrift. Damit war ich nun offiziell ein „Dichter” geworden. Ich ließ mir die Haare über die Ohren wachsen und dachte über eine individuelle Methode nach, meine Krawatte zu knüpfen. Ein paar rabiate Buchkritiken, die ich in dem von Ludwig Jakoboski geleiteten Literaturjournale „Die Gesellschaft” veröffentlichte [...], lenkten die Aufmerksamkeit „Jung-Prags” auf mich. Ich wurde, achtzehn Jahre alt, in den Vorstand eines neuen Künstler- und Schriftstellervereines gewählt, den man als Trutzbund gegen die „Konkordia” gegründet hatte.

Leider wurde das erwähnte erste Gedicht noch nicht eruiert und damit das genaue Datum einer Erstveröffentlichung noch nicht festgestellt. Die frühesten bekannten Veröffentlichungen, Gedichte und Besprechungen (einschließlich der in der Gesellschaft), erschienen 1899. Im April diesen Jahres (er war jetzt zwanzig Jahre alt) tritt er auch, nach bisher vorliegenden Dokumenten, zum erstenmal mit Ludwig Jacobowski in Verbindung und in »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« bemerkt er nach einem abfälligen Urteil über »Jung-Prag« (das etwas weiter unten zitiert wird), dass er als »kaum Zwanzigjähriger den Plan betrat«. Leppins Aussagen und die dokumentarische Basis zu den Aussagen in »Meine ersten Dichterjahre«, nicht aber die in »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« stehen also in leichtem Widerspruch. Trotzdem kann man seinen Hinweis, dass er schon als Achtzehnjähriger »in den Vorstand eines neuen Künstler- und Schriftstellervereines« gewählt wurde, nicht stillschweigend übergehen. Nur scheinen sich in der Erinnerung verschiedene Aktivitäten zu vermischen, denn – wie gesagt – die erwähnten Buchkritiken erschienen erst 1899 und Leppins Verbindung zu »Jung-Prag« geschah auch nicht vor diesem Jahr, sonst wäre sein Name sicherlich in Verbindung mit dem Besuch Detlev von Liliencrons, der 1898 erfolgte, erwähnt worden (siehe weiter unten). Auch klingt die Beschreibung des Vereins, den er erwähnt, sehr ähnlich der, die Leo Heller über die »Freie deutsche Künstlervereinigung« in seinen „Prager Erinnerungen” (1921) gibt:

Ich erinnere mich daran, wie lebhaft in den Zusammenkünften über dieses und jenes Gedicht debattiert wurde, mit welchem Feuer Johann Karl Schwarz aus seinem neuen Roman las, mit welcher Verzücktheit Paul Leppin ein kurz vorher vollendetes Gedicht vortrug und Oskar Wiener eine seiner Balladen sprach. Freilich, lang hat die Herrlichkeit nicht gedauert. Denn als man über die Art des Vereinsabzeichens verhandelte und die einen für einen Lorbeerzweig, die anderen für eine Lyra, noch andere aber für eine Feder waren, da zeigten sich in der jungen Vereinigung, dem Schutz- und Trutzbündnis gegen die „Konkordia”, bereits gewaltige Sprünge. Und als dann der Obmann immer später zu den Versammlungen kam, und das vorgetragene Gedicht eines Ausschußmitgliedes nicht genügend gelobt wurde und etliche Schauspieler Angst bekamen, daß ihnen ihre „treue und unentwegte” Mitgliedschaft bei der „Freien deutschen Künstlervereinigung”, von den Kritikern, die nun einmal allesamt der „Konkordia” angehörten, übel ausgelegt werden könnte, da löste sich der Verein sang- und klanglos in seine Urbestandteile auf. Noch bevor die Statuten fertig gedruckt waren. Und das war nur noch ein Glück für die Buchdrucker, denn es hätte keinen gegeben, der sie bezahlt hätte.

Nach Heller war für diese Gruppierung das Vereinslokal das Hinterzimmer im Café Renaissance am Graben (das auch den »Jung-Pragern« als Heim diente).

Zum Präsidenten wurde der Prager Musikschriftsteller und Redakteur Dr. Viktor Joß ernannt und dem Ausschusse gehörten an: der damalige Regisseur des Landestheaters [...] Alfred Reucker, die Schriftsteller Franz Tafatscher [...]. Oskar Wiener, Paul Leppin, Dr. Ottokar Winnicky, Dr. Karl Johannes Schwarz, Professor Dr. Siegfried Lederer, der Maler Ernst Ernst, die Schauspieler Erich Schmidt, Hermann John, Willi Bauer, die Opernsänger Alexander Haydter, Magnus Dawison und als treuer, unermüdlicher Schriftführer der brave, alte Graf Belrupt ...

Zum Vergleich: Leppins Beschreibung des Vereins (Meine ersten Dichterjahre):

Nun begann für mich [d.i. Leppin] ein bisher ungekanntes, regelloses Leben mit Kaffeehaussitzungen, die bis zum Morgengrauen währten und in der Frühdämmerung in einem anderen Kaffeehause geschlossen wurden. Mit überhitzter Leidenschaftlichkeit wurden da endlose Wortgefechte geschlagen und über Kunst und Kultur disputiert, während eine Zigarette nach der anderen zwischen unseren zitternden Fingern verkohlte. Der Verein hat sich dann nach einem Jahre ganz von selbst aufgelöst, ich glaube es war an dem Tage, an dem die Statthalterei endlich unsere Statuten bewilligte.

Sicherlich war Paul Leppin auch gleich nach der Matura aktiv, doch nicht bei Hellers Gruppe noch Jung-Prag, sondern in noch zu eruierenden literarischen Zirkeln. In jedem Fall ist nicht zu zweifeln, dass sich Leppin zu diesem Zeitpunkt nicht mit Wieners Gruppe identifizierte, wie seine Ausführungen im nächsten Abschnitt von »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« zeigen, wenn er auf »Jung-Prag« zu sprechen kommt:

„Jung-Prag” erzielte keine nachhaltige Wirkung. Die Handvoll Leute, die den Rummel in Szene setzten, standen zumeist nur in einer platonischen Beziehung zur Zunft. Junge Kaufleute und Literaturgigerln, die ohne innere Nötigung an die Kunst geraten waren, bildeten den Kern der Gruppe. Der übliche Hokuspokus, den sie veranstalteten, fand weder den Applaus des Publikums noch der Presse. Da kein ungewöhnliches Talent die Gefolgschaft bannte, verebbte der Sturm im Wasserglase. Die Dichter verliefen sich in ihre Kontore, und kein sichtbares Zeichen hinterließ ihre Wirksamkeit, als hie und da ein paar vereinzelte Reime in einer schöngeistigen Zeitschrift, die ganz manierlich dreinblicken, wenn man sie heute ans Tageslicht stöbert. Nur der Jahrgang der Damen, die damals den Backfischzopf flochten, bewahrte die Erinnerung an einen oder den andern des Kreises: an Paul Porges, dessen schwermütige Verse vielfache Erwartungen im Stiche ließen, an Walter Schulhof, der die Krawatte „Es fallen die Blätter” getragen hatte.

»Jung-Prag« war nach den verschiedenen Urteilen, die man in zeitgenössischen Schriften finden kann, eine Gruppe von jungen Leuten, die sich, so scheint es, nach 1895 zusammengetan hatte. Das Datum basiert auf den oben zitierten Hinweisen Leppins, die implizieren, dass er zur Zeit der ersten Auflehnung der jungen Literaten noch die Schulbank drückte. Hartmut Binder formuliert ebenfalls: »Als Gegenbewegung zur Concordia hatte sich seit 1895 um den Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen die neuromantische Bewegung Jung-Prag gebildet, [...]« (Prager Profile, S. 98). Leider gibt er keinen Beleg für diese Annahme. Kurt Krolop hatte dagegen die Situation folgendermaßen umrissen: »Die Versuche, der jungen Literatur einen Sammelpunkt zu schaffen, reichten vom Anschluß an den 1895 gegründeten „Verein deutscher bildender Künster in Böhmen” über den Kreis, der sich 1898 als „Jung-Prag” vor allem um Oskar Wiener scharte, [...]« (Vorgeschichte, S. 52). Leppins Hinweis »Vor einigen zwanzig Jährlein« (s.o.), der auf 1918 datiert ist, ist zu unpräzise, um weiterzuhelfen. Sicher ist nur, dass der größte Erfolg dieser Gruppe, die Einladung Detlev von Liliencrons, zum Besuch des Dichters führte, der am 11. Mai 1898 zum erstenmal in Prag aus seinen Werken vorlas (Alt-Prager Guckkasten. Neuausgabe, S. 43). Nach den Ausführungen von Wiener wird deutlich, dass Paul Leppin nicht zu der Gruppe gehörte (Alt-Prager Guckkasten. Neuausgabe, S. 43-44), wie auch nicht Victor Hadwiger und Camill Hoffmann, um nur drei der oft mit Jung-Prag in Verbindung gebrachten Literaten zu nennen:

[Jung-Prag] waren etwa zehn ganz junge Leute, die nicht den studentischen Kreisen angehörten und daher von der Presse und der Prager deutschen Gesellschaft nicht ernst genommen wurden. Sie schwärmten, schrieben Verse und standen mit dem Bürgertum auf Kriegsfuß. Mehrere davon sind jung an Jahren gestorben, andere verschollen oder haben die Kunst an den Nagel gehängt und bürgerliche Berufe ergriffen. Der Poesie treu geblieben bin nur ich und Margarete Beutler, die damals als Erzieherin in Karlsbad lebte. Auch Hugo Steiner, jetzt Professor an der Akademie für graphische Kunst in Leipzig und Bildhauer Karl Wilfert d. J. gehörten 'Jung-Prag' an, das sein Hauptquartier im Café 'Renaissance' hatte.

Bei den »etwa zehn junge[n] Leute[n]« handelt es sich wahrscheinlich um, wie bei Wiener angeführt: Oskar Wiener, Margarete Beutler, Hugo Steiner, Karl Wilfert d.J., dann die bei Leppin erwähnten Dichter: Paul Porges, Walter Schulhof, und die nach einem Programm des Liliencron-Jung-Prag-Abends vom 11. Mai 1898, auf das Hartmut Binder hinweist (Prager Profile, S. 97 und Anmerkung), aufgelisteten: Alfred Guth, Eugen Trager, Richard Wurmfeld , und, wie Krolop ohne Beleg ergänzt, Ottokar Winicky (Vorgeschichte, S. 76, Anm. 41). Die Reputation der zugehörigen Literaten (nicht der Künstler) dieser Gruppe war nicht die beste, wie Liliencrons Bemerkung über sie in einem Gespräch mit Wiener beweist (Alt-Prager Guckkasten. Neuausgabe, S. 65):

Und dann erinnerte er [d.i. Liliencron] sich voll Unmut eines „Jung-Pragers”, der Tags vorher den Dichter des Wallenstein einen „Blechkopf” genannt hatte. „Mich empört solch ein kindischer Hochmut; passen Sie auf, nicht ein einziger von den jungen Leuten, deren Gedichte ich vorgestern mit angehört habe, bleibt bei der Stange. Ich habe ihnen allen applaudiert aus Freundlichkeit, doch es ist nur Strohfeuer und wird bald verrauchen.” Liliencron hat recht behalten, die Schwärmer von einst sind treffliche Kaufleute geworden oder sehr pünktliche Beamte, und wenn sie mir begegnen, erröten sie vor dem Gedanken, einst Verse geschrieben zu haben.

Entsprechend betont Leppin immer wieder, dass er nicht zu dieser Gruppe zählte und sieht auch die Beziehung zwischen diesen Literaten und Margarete Beutler nur als locker an, wenn er in »Prager Literatur vor drei Jahrzehnten« über »Jung-Prag« schreibt:

Unterdessen hatte „Jung-Prag”, ein Klüngel ungebärdiger, mehr oder weniger ernst zu nehmender Literatur-Jünglinge, ein Töpfchen zum Überlaufen gebracht, in dem, wie die Folge bewies, mehr als wo anders mit Wasser gekocht wurde. Oskar Wiener gehörte der Gruppe an und ist wohl als einziger Gewinn der Affäre zu buchen. Verdienstvoll waren die Beziehungen, die »Jung-Prag« mit Margarete Beutler verknüpften, einer Dichterin von leidenschaftlicher Unbekümertheit, die in den letzten Jahren sehr mit Unrecht in Vergessenheit geriet. Verdienstvoll war auch der Eifer, der Detlef von Liliencron zu seiner ersten Vorlesung in Prag bewog, die damals mit der unverbrauchten Stoßkraft eines großen Ereignisses einschlug. Was sonst noch an Namen und Tagestalenten an die Oberfläche gespült wurde, ist seither seit langem verschwunden und höchstens für die Beteiligten von einem privaten Interesse.

Ottokar Winicky, den Leppin schätzte (siehe seine Aufnahme in die späteren Blätter Fruehling, herausgegeben von Leppin) und deshalb hier wohl neben Beutler und Wiener erwähnt hätte, wird also von Leppin nicht zu »Jung-Prag« gezählt. Leppin fährt nach den zwei oben schon zitierten Absätzen aus »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« deshalb in seinen Erinnerungen fort:

Als ich kurz nach dem Spektakel als kaum Zwanzigjähriger den Plan betrat, machten die Zuläufer des zersprengten Programms noch immer krampfhafte Anstrengungen, es zu einigen. Sie hatten damit nicht viel Glück.

Dies war wohl im Frühjahr 1899. Leppin bereitete gerade seine erste Publikation vor, Fruehlingsschrift der Deutschen in Königl. Weiberge, die dann im Juni erschien. In diesem Zusammenhang schrieb er nicht nur an andere, im Reich sesshafte Schriftsteller, sondern arbeitete auch mit seinen tschechischen Freunden zusammen und veröffentlichte seine ersten Rezensionen in der moderni revue (siehe vor allem Daniel Vojtechs Studien) und der Gesellschaft. War dies auch die Zeit, in der die oben erwähnten Bemühungen Hellers stattfanden? Hatte sich Leppin doch geirrt, als er schrieb, dass er als Achtzehnjähriger, gleich nach der Matura, in den Vorstand eines literarischen Vereins gewählt wurde? Über die allgemeine Lage schreibt er in »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag«:

Für die nächsten anderthalb Jahrzehnte bot der prager Literaturbetrieb das Bild widerstrebender Zerrissenheit. Es waren genug Kräfte, Arbeiter, Leistungen. Aber jeder schuf nur für sich, aus seinem engsten Zirkel heraus, ohne den Anschluß an eine künstlerische Gemeinsamkeit. Die Alten schlossen sich vor den Jungen, die Jungen vor einander ab. Da war Friedrich Adler, dem seine Übersetzungen aus dem Tschechischen, seine Bühnennachschöpfungen aus dem Spanischen einen guten Namen errangen, Hugo Salus, der mit seinen Gedichten die führenden deutschen Blätter, „Jugend” und „Simplizissimus” eroberte und um den der eifrige Kultus gesellschaftlich Nahestehender den Nimbus des „offiziellen Dichters” spann. Emil Faktor gab sein erstes Gedichtbändchen heraus, und Hedda Sauer übte hinter den wohlbehüteten Schranken, die eine hofrätliche Sippschaft um ihre Person errichtete, eine feine, sorgsame, reizvolle Kunst. Egon Erwin Kisch räuberte in den prager Spelunken, brachte blendende Notizen aus den Bezirken der Halbwelt heim, die er später in seinem Buch „Der Mädchenhirt” trefflich verwertete. Aber es war nur ein zufälliges Nebeneinander, das manchmal den Mittler zwischen den einzelnen machte, in Wahrheit begrub sich die deutsche Schriftstellerkolonie auf dem feindlichen Boden der slawischen Stadt in spleeniger Eigenbrötelei.

Dieser sehr geraffte Überblick wird von Leppin in dem einen oder andern Artikel ergänzt, zum Beispiel erwähnt er in »Prager Literatur vor drei Jahrzehnten« nicht nur zwei Gedichtbücher Faktors (diese wären wohl Was ich suche, 1899, und Jahresringe, 1908), sondern auch Josef Adolf Bondy, »der empfindsame Gedanken in schöne Reime brachte.« Der Nachdruck Leppins bei seinen Ausführungen liegt aber in allen Fällen auf dem Kaleidoskopartigen der Prager Literaturszene. Es gab kein »Jung-Prag«, das durch ein gemeinsames künstlerisches Credo vereinigt war. Leppin beschreibt präzise in dem nächsten Absatz seines Artikels »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag«, welches Bild sich bot:

Mit Karl Johannes Schwarz, einem genialischen die Kunst lüstern besingenden Arzt, dessen eigenwillie Romankapitel „Der Ungebändigte” seither zu Unrecht vergessen sind, mit Camill Hoffmann, Otokar Winicky und einigen andern versuchten wir anfangs, eine gemeinsame Linie des Verkehrs zu halten. Übrig blieb hiervon nur ein freundschaftlich verbrüderter Trupp von Malern, Bildhauern und Komödianten, dem als sparsame Beigabe zuweilen auch ein Dichter beigemengt war. Dieser Klüngel brachte Prag eine Zeitlang sogar in den Ruf, eine regelrechte Bohême zu besitzen. Der junge Moissi tobte hier sein überquellendes Temperament aus, und was sich unter dem Vorwande ähnlichgestimmter Kunstziele zusammengeschlossen hatte, drohte bei sinnlosen Abenteuern zu verbummeln. Die Dichter freilich blieben beständig in der Minderzahl: Oskar Wiener erfreute die Zechkumpane mit seinen brillanten Schwänken, Viktor Hadwiger, der Frühverstorbene, der niemals Wasser in seinen Wein gegossen hatte, lockte mit zynischem Hohn in die Laube des Widerspruches. Später gesellte sich Gustav Meyrink zu uns, der damals noch fernab von seinen „Golem” Erfolgen die ersten literarischen Gehversuche mit erstaunlicher Bravour absolvierte und der vor den mannigfachen Wechselfällen seines späteren Lebens in Prag ein Bankgeschäft betrieben hatte. Mit ihm fand sich ein ganzer Schwarm von Zauberern und mystischen Gesellen ein, und spiritistischer Humbug, vitalistische Faxen belebten unsere öfters ein wenig übernächtige Laune zeitweilig auf das erfreulichste.

Leppin spricht also hier von der Jahrhundertwende und den unmittelbar folgenden Jahren, der Zeit, in der von ihm »Lyrische Flugblätter« (ab Nr. 3 »Moderne Flugblätter«) mit dem Titel Fruehling herausgegeben wurden, über die er in dem Artikel »Aus Jungprager Gründerjahren« berichtet, wobei die Bezeichnung »Jungprag« hier generisch zu verstehen ist, denn - wie immer wieder hingewiesen - grenzte Leppin seine Bemühungen in den verschiedenen Erinnerungsartikeln immer scharf von denen der Gruppe »Jung-Prag« ab. Ein gekürzter Neudruck des Artikels erschien dann auch mit dem passenderen Titel: »Verstaubte Papiere«. In [Nr. 1] vom März 1900 von Fruehling waren nur drei Dichter vertreten: Camill Hoffmann, Paul Leppin und Oskar Wiener. Der Buchschmuck stammte von Hugo Steiner. In [Nr. 2] vom Mai 1900 waren Marga Beutler, Camill Hoffmann, Paul Leppin und Ottokar Winicky dabei. Der Buchschmuck war diesmal von Ferdinand Krombholz und Hugo Steiner. Camill Hoffmann verließ in diesem Jahr Prag und ging nach Wien. Doch Gedichte von ihm erschienen auch in der nächsten Nummer, [Nr. 3] vom [Dezember 1900], diesmal mit dem Zusatz seiner neuen Heimat: Wien. Und er war nicht der einzige Wiener. Hinzu kamen: Paul Wertheimer und Stefan Zweig. Dazu noch aus Friedenau: Peter Baum. Von den Pragern waren Paul Leppin, Oskar Wiener und Ottokar Winicky vertreten. Die Titelvignette stammte von Hugo Steiner. Fruehling versuchte einen größeren Leserkreis anzusprechen, wenn auch ohne Erfolg. Das letzte Heft, [Nr. 4] vom April 1901, war Rainer Maria Rilke gewidmet, dem großen Vorbild, und enthielt eine Besprechung von Paul Leppin zu Rilkes Geschichten vom lieben Gott. Der Buchschmuck stammte wiederum von Hugo Steiner.

Fruehling ist also nicht ein Versuch der »Jung-Prager«, sich eine Plattform, ein Sprachrohr zu schaffen (siehe Freschi), sondern ist das Ergebnis der Bemühungen einiger neu auf den Plan getretener Literaten, diesmal mit Paul Leppin als dem Mittelpunkt und Organisator, denen sich der eine oder andere des ehemaligen »Jung-Prag« anschloss. Der Begriff »Moderne Romantik« (Aus Jungprager Gründerjahren) oder »Neuromantik«, der für sie oft benutzt wird, ist, wie Leppin anmerkt, »wenig erschöpfend« (Aus Jungprager Gründerjahren). Und der Misserfolg von Fruehling geht wohl gerade auf das Fehlen einer wirklich kohärenten Prager Dichterschule zurück. Wie Leppin in »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« schrieb, es kam zwischen 1900 und 1906 zu keiner wirklichen künstlerischen Sezession, sondern nur zu einer Boheme, einem gemischten Freundeskreis von Künstlern, Schauspielern und Dichtern, zu einem, wie es Binder nennt, »Geselligkeitszirkel« (Meyrink, S. 236). Es war die Zeit, in der Leppin eine enge Freundschaft mit Victor Hadwiger, der 1903 nach Berlin ging, mit dem Schauspieler Alexander Moissi, der von 1902 bis 1904 am Neuen Deutschen Theater angestellt war, den Künstlern Hugo Steiner, Richard Teschner und Cocl. d.i. Rudolf Walter -- der die Schwester von Leppins Verlobten in einer Doppelhochzeit 1907 ehelichen sollte -- verband, wo sie mit Gustav Meyrink, ehe er 1903 Prag verließ -- dem Jahr, in dem sein erstes Buch, Der heiße Soldat, erschien, das von Leppin in deutschen und tschechischen Journalen besprochen wurde -- sich zu spiritistischen Sitzungen trafen, und wo die jungen Künstler versuchten die Nationalitäten-Schranken zu überwinden, in tschechischen Zeitschriften veröffentlichten, über tschechische Kultur in deutschen Journalen berichteten, die Zeit, wo sie mit ihren tschechischen Freunden zusammenkamen und beim Wein und Bier über Gott und die Welt diskutierten. Paul Leppin trauerte in seiner Selbstbiographie (geschrieben 1934) dieser Zeit nach (Prager Rhapsodie, Neuausgabe, S. 182):

Mein Ruhm als Spaßmacher und ungekrönter König der Prager Boheme ist mittlerweile verflogen. Als ich vor seiner allzu zudringlichen Pracht vor drei Jahrzehnten in den Hafen der Ehe flüchtete, begann sein Glanz zu verblassen.

Die Heirat war, wie schon erwähnt, 1907. Und dass die Leppinsche Selbsteinschätzung »als Spaßmacher und ungekrönter König der Prager Boheme« wohl der Wahrheit entsprach, beweisen die Erinnerungen von Max Brod (Prager Kreis, S. 74):

Paul Leppin, der Leidende, auch physisch von einer in jener Zeit unheilbaren Krankheit Verzehrte, der von Grund aus Unheimliche, hatte doch auch eine gesellige Seite in seiner Natur, etwas geheimnisvoll Clowneskes, ja Koboldhaftes. Wie Wedekind spielte er die Laute und sang dazu die von ihm selbst gedichteten, boshaften und gar nicht salonfähigen Bänkellieder. Im Kreis des „Vereins bildender Künstler” blieb keiner verschont. [...] Ich sehe Leppin noch, süffisant lächelnd, im Lehnstuhl sitzen, das bebänderte Instrument vor sich. Ich höre seine heisere Stimme, die fast tonlos war - ein zerbrochener Scherben.

Er war immer mitten drin in allen Festlichkeiten, wobei viele davon vom »Verein bildender Künstler« organisiert wurden, wie Leppin in »Prager Künstlerfasching vor zwanzig Jahren« (1927) beschreibt.

Das war in dem kleinen Hofzimmer im Deutschen Hause, wo der Verein bildender Künstler residierte. Jugendlaune, Uebermut, Scherz und Gelächter sind mit dem Andenken an diese Wochensitzungen verwoben, die den Verein und seine Gäste zu froher Geselligkeit versammelten. [...] Auch Künstlerfeste respektablen Formats wurden in dem schmalen Zimmer des Hintergebäudes gefeiert, die wochenlanger Vorbereitung bedurften und die eine hingebungsvolle Regie mit erlesenem Programm ausstattete. Ein Faschingsabend, an dem der Maler Mopp als kohlschwarzer Neger paradierte, Teschner zu fröhlichen Muritaten gespenstische Bilder zeichnete, an dem ich selbst im kurzen Chansonettenröckchen auf der Bühne stand, um nach der Pause im schlanken Damenreitkleid, schwarzlockig und ernst als Maria Deward, als weiblicher Star der „Elf Scharfrichter“ wiederzuerscheinen, war von humorigen Lichtern einer wirklichen Lustbarkeit bestrahlt und wird mir immer unvergessen bleiben.

Auch Festzeitungen gab er heraus, wie Im Reiche Strauss'scher Operetten und das »Höllen-Adagio« Die Kralle. Über die veschiedenen Höhepunkte dieser Zeit schrieb er in den Artikeln »Prager Boheme« (1921), »Spiritismus« (1922), »Gustav Meyrink« (1924), die alle wegen ihrer historischen Bedeutung in dem ersten Band der Leppinschen Werkausgabe aufgenommen wurden (2007), um sie einem größeren Leserkreis leicht zugänglich zu machen. Weitere wichtige Artikel sind »Der junge Moissi«, »Nächte mit Moissi«, »Moissis Prager Bühnenjahre«, »Victor Hadwiger«, »Viktor Hadwiger«, »Meine ersten Dichterjahre«, die alle in Folgebänden der Leppin-Werkausgabe zugänglich sein werden. Doch diese Epoche der Boheme währte nicht lange, wie Leppin im nächsten Abschnitt der Erinnerung »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« feststellte:

Das unstäte Schicksal brachte auch diese Runde bald aus ihrem Gefüge. Aufgescheucht stiebte der Kreis mit einemmal auseinander. Meyrink sagte nach unerquicklichem Erleben der Stadt Valet, in der er ein Vierteljahrhundert zu Gaste gewesen war, Hadwiger zog aus, Verachtung im Ranzen, um in Berlin sein Glück zu erzwingen, starb dort zwischen Hunger und abgefeimter Trübsal einen melancholischen Tod. Das Literaturleben Prags schien eine Weile von Gott und den Menschen verlassen zu sein, ohne Zufluß von außen, ohne innere Wärme. Ein paar Jahre vergingen, ohne daß eine Hoffnung auf Wandlung zu spüren gewesen wäre.

In diese hoffnungslose Zeit fiel der letzte Versuch der noch in Prag verweilenden jungen Literaten und Künstler, sich trotz allem noch einmal zu Wort zu melden mit den »Deutschen Blättern der Künste« Wir, die »inhaltlich und programmatisch sowie dem Stil ihrer ganzen Aufmachung entsprechend den Rang einer kritisch-literarischen Kunstrevue [beanspruchte]« (Aus Jungprager Gründerjahren). Die Rezeption in Prag war - milde gesagt -- nicht sehr gut. »Zur Einführung« in Heft 1 und »In eigener Sache«, beide Beiträge von Leppin, sind wichtige historische Dokumente für die Prager Kunst- und Literaturszene (deshalb auch im Band 1 der Werkausgabe zu finden) und machen es verständlich, warum nur zwei Hefte erschienen: Heft 1 im April, Heft 2 im Mai 1906. Dann hatte das Establishment gewonnen. »Leider hat der mangelnde wirtschaftliche Hintergrund auch unsern „Blättern der Künste” ein jähes Ende bereitet.« (Aus Jungprager Gründerjahren) Doch ein Name war in diesen Heften aufgetaucht, der für die Prager Literatur wichtig werden sollte: Max Brod. Leppin setzte deshalb seinen Überblick in »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« fort mit der Feststellung:

Wohl war das scharfe, nachdenksame Profil Max Brods ins Licht getaucht, seine Bücher machten von sich reden, sein vielseitiger Arbeitswille verblüffte. Aber es fiel niemandem ein, sein Erscheinen anders zu werten als das In-Sich-Treten einer interessanten Persönlichkeit, ihn etwa als Vorposten einer neuen Generation zu betrachten. Um so größer war die Überraschung, als diese eines Tages wirklich da war, Ellbogenfreihet in Anspruch nahm, die Physiognomie des geistigen Prag mit Behendigkeit umgestaltete, alle Unarten, Hyperbeln, Verstiegenheiten vom Stapel ließ, die zu einem gesunden Revolutiönchen gehören.

Kurt Krolop charakterisiert diese Zeit so (Vorgeschichte, S. 53-54):

Die Bedeutung der Zeitschrift Wir erschöpft sich jedoch nicht nur darin, daß wir hier das letzte selbständige Organ der 'Frühlings'-Generation von 1900 vor uns haben; auch nicht darin, daß in Leppins Einführungsworten noch einmal alles zusammengefaßt ist, was diese Generation gegen das offizielle deutschliberale Prag und seine Institutionen auf dem Herzen hatte. In der Zeitschrift Wir verbindet sich vor allem die Verabschiedung dieser Generation mit der Vorstellung des ersten Autors der nächsten. Die beiden Hefte enthalten neben Beiträgen von Victor Hadwiger, Camill Hoffmann, Rainer Maria Rilke, Paul Leppin und Oskar Wiener auch bereits erste Gedichte Max Brods und eine Besprechung seines ersten Buches, das im Frühjahr 1906 bei Axel Juncker erschienen war: Tod den Toten! Man wird hier den Beginn eines neuen Abschnitts in der Geschichte der Prager deutschen Literatur ansetzen können, der nach 1910 zu Ende ging [...].

Leppin war sich des Übergangs sehr bewusst. Es war ein Ende für seine Generation, von denen die meisten inzwischen Prag verlassen hatten. Sicherlich hat Walter Schmitz Recht, wenn er zu dieser Epoche am Schluss des Abschnitts »Wie das Bürgertum die Moderne fand« in »Tripolis Praga« anmerkt: »Für Paul Leppin wird der verpaßte Aufbruch zum melancholischen Lebensthema eines mißachteten Talents.« (S. 31) Kurt Krolop fast die Situation prägnant zusammen (Zitiert nach Studien, S. 159):

Wenden wir uns also [...] der ersten der hier zur Diskussion stehenden Gruppen zu, den zwischen 1870 und 1880 geborenen, um 1900 hervorgetretenen Prager Autoren, in deren zeitlicher Mitte Rilke (1875-1926) steht, flankiert von den etwas älteren Prager Dichtern Ottokar Winicky (1872-1943) und Oskar Wiener (1873-1944) und einer größeren Anzahl jüngerer wie Paul Leppin (1878-1945), Paul Adler (1878-1946), Victor Hadwiger (1878-1911) und Camill Hoffmann (1879-1944). Schon bald nach der Jahrhundertwende war die von der gemeinsamen Prager Situation ausgehende und auf sie bezogene gruppenbildende Energie dieses Kreises erschöpft. Zurück blieben lediglich Winicky, Wiener und Leppin, deren Wirkung in der Folgezeit kaum hinausdrang über den „Prager Dunstkreis”, wie es in einem Romantitel Wieners bezeichnend genug heißt.

Den neuen Abschnitt (1906 bis 1910) nannte Paul Raabe »im Hinblick auf das nachfolgende Jahrzehnt« (und Krolop griff dies auf): »Inkubationszeit«. Die einzige Hoffnung, die Leppin blieb, war, wie er in »Aus Jungprager Gründerjahren« zum Abschluss seiner Bemerkungen zu Wir und zu dem Scheitern dieser Kunstrevue feststellte (Sätze, die an seine Bemerkungen zu »Jung-Prag« erinnern):

Aber der Widerspruch, den sie auslöste, der Antrieb, den sie erweckte, sind sicher nicht spurlos und ohne Wirkung geblieben. Einer neuen Generation sind die Anrempelungen zugute gekommen, die wir belustigt und verärgert zugleich über uns ergehen ließen und das Aufeinandertreffen unvereinbarer Meinungen hat ohne Zweifel mitgeholfen, den heimatlichen Boden für die Kunst unserer jungen Leute vorzubereiten. Und wenn es nichts anderes gewesen wäre als der Sturm im Glase Wasser: für mich hängen schöne, tauklare Erinnerungen an diesen Blättern, von denen nun nichts mehr übrig geblieben ist als ein vergilbtes Exemplar im Schreibtisch ihres früheren Redakteurs.

Leppins Generation der um 1878 Geborenen (und insbesondere die »Prager Boheme« um 1900 bis 1906) wurde abgelöst von den Dichtern um Max Brod (geboren 1884) und um Franz Werfel (geboren 1890), mit denen Leppin seinen Bericht über die »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« beendet:

Ein Name war es vor andern, der dem Überschwange zum Sieg verhalf, der programmatisch gewappnet wurde, der eine Stoßkraft von ungeahnter Intensität enthielt. Das Weltgefühl, das aus den ersten Büchern Franz Werfels sprach, das unbekümmerte Pathos seiner Lyrik sammelte Jünger um sich, Gläubige, die mit Ungestüm für ihn eintraten, echte und falsche Bekenner. Nicht seine Gedankengänge allein, die vielfach vor ihm schon beschritten wurden, die Inbrunst, mit der er sich an sie kettete, gab seiner Art den unwiderstehlichen Flug. Sein Aufschrei, sein Armebreiten, sein Hingerissensein, mit dem er in die Knie brach, wirkten mit der Wucht originaler Akzente. Seine hochgemute Jugend stieß unbedenklich die Türen auf, die zu Chaos und Urgründen führen, nahm alte, brüchige Worte auf, machte sie wundervoll vor plötzlichem Glanze, demaskierte sie mit einem Seufzer oder Kusse.

Um ihn herum gruppierte sich das neue Prag. Nun erst, als das Eis gebrochen war, als die Zugehörigkeit zueinander ins Bewußtsein der Schaffenden trat, wies sich die Reichhaltigkeit der vorhandenen Werte. Nicht immer war es Epigonentum (obzwar auch dieses üppig wucherte), das den Schatten Werfels über die jüngsten Dichter breitete. Bei vielen war es nur die Teilnahme mitschwärmender Sympathie, die sie auch künstlerisch in seine Nähe stellte, wie bei Rudolf Fuchs, der abseits von der religiösen Parade des „Wir sind”-Buches die schwere Hand des Grübelnden über seine Rhythmen hielt, oder bei Otto Pick, der trotz eifrigster Werfel-Propaganda für sich allein das anmutige Gärtchen seines „freundlichen Erlebens” bestellte. Bei Oskar Baum, dem feinhörigen Erzähler aus der Welt der Blinden, bei Franz Kafka, dem Schöpfer eines reinen, von jedem Lyrismus unbelasteten Prosastils sind außerpersönliche Zusammenhänge mit dem Dichter des „Weltfreunds” wohl überhaupt nicht nachweisbar. Aber der Durchschlag seines Temperaments wirkte befruchtend. Die geistige Humusschicht, die wohl in Prag in besonderer Mischung vorhanden sein muß, brachte allenthalben latente Kräfte zum Treiben. Die literarische Bewegung, einmal in Schwung gebracht, stockte vor keinen Hindernissen, und auch der Krieg, der unter den jungen Dichtern nachdrücklich aufräumte, hat ihr nicht Einhalt geboten.

Es wäre verfrüht, die Aufmerksamkeit auf Namen zu lenken, die hier unter Eingeweihten längst einen guten Klang haben. Allzugroß sind noch die Lücken in der Fassade gerade der jüngsten Generation, die umfassende Leistungen vermissen lassen. Eins aber kann mit ungeteiltem Vergnügen konstatiert werden: die Gemeinsamkeit, mit der hier die Jugend allerhand Absichten auf eine breite Basis stellt, ist eine gute Bürgschaft für die Kunst, die sie vertreten will. Wohl mag Kameradschaft in einzelnen Fällen der Kameraderie zu weichen bestimmt sein, die geschlossene Front der jungen Prager verdient emphatisch begrüßt zu werden, weil sie einer Folge von Jahren den Garaus machte, in denen hier dem Schriftsteller nicht Rückhalt und Mitfreude, sondern nur hämisches Mißtrauen beschieden war.

Mit dem Schlusssatz kehrt Leppin zu seiner Generation zurück, insbesondere zu dem Skandal um seinen Roman Daniel Jesus, der 1905 erschien und auf Ablehnung und Verachtung in Prag stieß, die Leppin veranlassten, 1906 eine Verteidigung in der Zeitschrift Kritik der Kritik zu schreiben, in der er auf die Prager Situation zu sprechen kommt (S. 36-37):

In meiner Heimatstadt Prag hat mir die Herausgabe dieser Verruchtheiten sehr geschadet, und von sozusagen „offiziöser“ Seite ist das Wort „pervers“ geprägt worden. Nun bin ich allerdings mit jedem denkenden Menschen der Ansicht, dass dieses Wort, sowie jede andere Relation zum „Normalen“, einen Begriff mit fliessenden Grenzen bezeichnet; ich will mich aber in eine Diskussion über diese Dinge nicht mit Leuten einlassen, denen allem Anschein nach jede geringfügige Abweichung von dem gesetzmässig geregelten Odeur der bürgerlichen Ehefreuden eine Perversität bedeutet. Über meinen Roman „Daniel Jesus“ ist bisher in keinem einzigen deutschen Blatte in Prag ein Wort verloren worden, obschon er nun bereits weit vor einem halben Jahre erschien und gewärtig in tschechischer Übersetzung vorbereitet wird. Bloss das „Prager Tagblatt“ brillierte mit einigen Aperçus über die bereits bekannte Perversität von Stoff und Verfasser. So wird bei uns in Prag deutschböhmische Literatur gefördert.

__________________________

Anmerkungen

Paul Leppin charakterisiert Alfred Klaar mit den Worten: »Ein Kopf von universeller Bildung, ein Kritiker von Schärfe und Rang, ein Temperament von bezwingendem Feuer, war er im Laufe seiner Prager Jahre zu einem Lokalheros geworden, der Mitläufer und Beflissene umwillkürlich um Haupteslänge überragte, der in der Welt der Gesellschaft und Kunst dominierende Stellung einnahm.« (Prager Literatur vor drei Jahrzehnten)

***

»Mit dem Weggang Klaars, der in Berlin den entsprechenden Wirkungskreis gefunden hatte, strömte ein liberaleres Lüftchen durch die entstandene Lücke. Friedrich Adler, der vor seinen ersten Bühnenerfolgen stand, Hugo Salus, dessen Weg ganz unpragerisch flott ins Berühmtsein mündete, traten sein Erbe an.« (Prager Literatur vor drei Jahrzehnten)

***

• Peter Demetz (1953) und Klaus Wagenbach (1958) gehen in ihren frühen Studien noch nicht auf die verschiedenen Gruppierungen der Prager Literaten ein. Wagenbach spricht lediglich von der »junge[n] Prager Generation« (S. 77), »der Prager Avantgarde« (S. 81), »Prager Moderne« (wo er namentlich aufführt, sich auf eine mündliche Mitteilung Max Brods berufend: Gustav Meyrink, Paul Leppin, Viktor Hadwiger, Oskar Wiener) (S. 108). Lediglich bei einem Zitat aus Wieners Prager Dunstkreis wird »Jung-Prag« bei ihm erwähnt. (S. 79)
• Die wohl grundlegendste Übersicht bietet Kurt Krolop (Zur Vorgeschichte, 1967, S. 52): »Die Versuche, der jungen Literatur einen Sammelpunkt zu schaffen, reichten vom Anschluß an den 1895 gegründeten „Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen” über den Kreis, der sich 1898 als „Jung-Prag” vor allem um Oskar Wiener scharte, 1900 und 1901 in den Modernen Flugblättern vertreten war, die Paul Leppin unter dem Titel Frühling herausgab; über den Versuch der Gründung einer „Freien deutschen Künstlervereinigung” bis hin zu der von Paul Leppin und Richard Teschner redigierten Zeitschrift Wir, die aber schon nach ihrer zweiten Nummer, dem Maiheft 1906, ihr Erscheinen einstellen mußte.«
• Viel zitiert werden auch H.G. Adlers Gruppierungen (Prager Schule, 1976). Hier sei nur die Gruppe der »Jung Prager« aufgeführt, die nicht den Erinnerungen Wieners und Leppins in allen Einzelheiten entspricht: »Gruppe 2: Zentrum ist ab 1895 der 'Verein bildender Künstler'. Brod nannte die Gruppe 'Neuromantiker', sie selbst nannte sich 'Neu-Prag' oder 'Jung-Prag'. Mitglieder waren Oskar Wiener (1873 bis 1944), Paul Leppin (1878 bis 1945), Viktor Hadwiger (1878 bis 1911). Rilke (1875 bis 1926) rezitierte hier als Gast, besuchte aber auch die 'Concordia'. Frei hier eingereiht sei Paul Adler (1878 bis 1946).« (S. 70)
• Im Bd. 1 des Kafka-Handbuchs heißt es in Christoph Stölzls Abschnitt »Prag«: »Im bewußten Gegensatz zum Monopol literarischer Geschmacksbildung der Concordia fand sich von der Mitte der 90er Jahre bis in die ersten Jahre nach der Jahrhundertwende ein lockerer Kreis junger Autoren zusammen, der sich das Signet Jung Prag beilegte, statt der Concordia den 1895 gegründeten Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen zum Forum wählte und mit den Modernen Flugblättern (1900/01) und der Zeitschrift Wir (1906) sich eine feste Plattform zu sichern suchte.
Im Mittelpunkt dieses Kreises standen OSKAR WIENER (1873-1944) (vgl. H.G.ADLER, 1976, S. 70), der besonders als Verfasser spaßiger Unterhaltungsgedichte und als Lyrik-Herausgeber hervortrat, RAINER MARIA RILKE (1875-1926), der Prag allerdings schon 1896 verließ, VIKTOR HADWIGER (1878-1911), PAUL LEPPIN (1878-1945) und der literarisch ambitionierte Bankdirektor GUSTAV MEYRINK (1868-1932), dessen Novellen auf MAX BRODS Anfänge großen Einfluß hatten. Gemeinsamer Nenner der Jung Prager war eine bewußt literarisch-irrationale Auseinandersetzung mit der vielfältigen Geschichte und Gegenwart Prags, wobei die eingesetzten Stilmittel von den Wortorgien und dem romantischen Mystizismus der Fin-de-siècle-Moderne bis hin zu frühexpressionistischen Tönen in HADWIGERS Gedichtband Ich bin (1903) reichten, der nicht ohne Folgen für WERFELS Erstling Wir sind (1911) blieb. MEYRINKS lange nach seinem Abschied von Prag veröffentlichter Roman Der Golem (1915) ist mit seiner magischen Simultaneität der Prager Geschichte und seiner Vorliebe für krasse Effekte das beste Beispiel für die Haltung der Gruppe gegenüber ihrer Heimatstadt, die das zentrale Thema ihrer Produktion bildet: Prag, die Stadt der Sonderlinge und Phantasten, Prag, die fremde, untreue, unenträtselbare Geliebte.« (S. 89).
• Hartmut Binder ist recht ausführlich, wenn er in dem Kapitel »Gruppierungen« in Prager Profile (1991) schreibt (S. 97-98): »Seit der Jahrhundertwende ist Prag den kulturell interessierten Zeitgenossen zunehmend als Literaturstadt in Erscheinung getreten. Im Abstand von wenigen Jahren haben sich hier mehrfach einander ablösende Generationsgemeinschaften gebildet, die sich nicht nur in Kaffeehauszirkeln zusammenfanden, sondern sich auch immer wieder durch Veranstaltungen, Publikationen und eigene Zeitschriften zur Geltung brachten.
Ausgangspunkt dieser ganzen Entwicklung war der unter der Schirmherrschaft des 1862 eröffneten Deutschen Casinos stehende Verband der Prager deutschen Schriftsteller und Künstler Concordia, der das literarische Leben der Stadt seit seiner Gründung im Jahr 1871 bestimmte. Schriftsteller wie Friedrich Adler, Karl Bayer, Josef Adolf Bondy, Emil Faktor, Heinrich Teweles, Hugo Salus und Joseph Willomitzer haben innerhalb dieses Rahmens ein Forum gefunden, das öffentliches Ansehen gewährte.
Der Nachwuchs, den dieses konservativ eingestellte Lager hervorbrachte, stand, wie Paul Leppin kritisch anmerkte, zumeist „nur in einer platonischen Beziehung zur Zunft”. Es handelte sich um junge „Kaufleute und Literaturgigerln, die ohne innere Nötigung an die Kunst geraten waren”. Gemeint waren Autoren wie Walther Schulhof oder Paul Porges, aber auch Alfred Guth, Eugen Trager und Richard Wurmfeld, die nach Auffassung Karl Tschuppiks ihre Produkte mithilfe „judenstädter” Kniffe an den Mann zu bringen suchten.
Als Gegenbewegung zur Concordia hatte sich seit 1895 um den Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen die neuromantische Bewegung Jung-Prag gebildet, der mehrheitlich Autoren zurechnen, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder kurz davor geboren wurden. Zu diesen gehören unter anderem Viktor Hadwiger, Camill Hoffmann, Paul Leppin, Gustav Meyrink, Raine Maria Rilke, Hedda Sauer und Oskar Wiener.
[...]
Den Zeitschriften Frühling (1900/1901) und Wir (1906), in denen sich der Kern Jung-Prags eine publizistische Plattform zu verschaffen suchte, war lediglich eine kurze Wirksamkeit beschieden.«
Fiala-Fürst (Beitrag,1996) bietet folgende Gruppierungen: »Das deutsche Prag - noch am Ende des 19. Jahrhunderts literarische Provinz - begann bereits um das Jahr 1905 zu erwachen durch die Werke seiner zweiten dichterischen Generation, die sich um den organisatorischen Geist Oskar Wieners und Paul Leppins und um die 1906 gegründete und bald darauf verbotene Zeitschrift “Wir” scharte, sich programmatisch - um sich von der vorherigen Generation der Prager “Literaturpäpste” aus dem Literatursalon Concordia zu unterscheiden - Jung Prag nannte und neben den bereits fast vergessenen Autoren Emil Faktor, Camill Hoffmann, Paul Wiegler, Leo Heller, Hedda Sauer, Auguste Hauschner, Viktor Hadwiger, Ottokar Winitzky der Weltliteratur Rainer Maria Rilke und Gustav Meyrink schenkte.
In den Werken der dritten und letzten Generation erreichte die Prager deutsche Literatur schließlich weltliterarischen Rang. Die Dichter der dritten Generation meldeten sich schon vor dem Jahre 1910 vereinzelt zu Wort. Den gemeinsamen Auftritt auf der deutschen Literaturbühne erlebten sie jedoch im “expressionistischen Jahrzehnt”. Unter der Fahne des Expressionismus nahmen fast alle Autoren, die zum “engeren” oder “breiteren Prager Kreis” gezählt werden, ihre schöpferische literarische Tätigkeit auf und bestimmten bald den gesamten literarischen Ausdruck der deutschen expressionistischen Generation mit.« (S. 13-14) Der Hinweis, dass »Wir« verboten wurde, entspricht nicht den Erinnerungen Leppins. Leider fehlt der Beleg.
• Scott Spector (Prague Territories, 2000) erwähnt »Young Prague/Jung Prag movement« sogar im Index sowie auch ein »Young Czech movement«. Er sieht »the transitional generation of the Young Prague movement« als eine »aestheticist secession«, die zwischen der »powerful Concordia group, led by the “literary popes” Alfred Klaar, Friedrich Adler, and Hugo Salus« und dem »Prague Circle« ihren Platz hat und »Gustav Meyrink, Oskar Wiener, Paul Leppin, and Viktor Hadwiger« umfasst. (S. 14) - Spector widmet dann einen ganzen Abschnitt (S. 17-20) der Frage: »Prague Circles?« Er sieht den von Brod postulierten »Prager Kreis« als eine spätere Erfindung Brods. »But there were many “circles,” many orbits in which Prague German-speaking Jews of this generation came into contact with one another, influenced or disagreed with one another, and contributed to each other's work.« (S. 17) Doch die aufgeführen Kreise sind alle nach den Gruppierungen um Wiener und Leppin und beziehen sich primär, wie im vorgehenden Zitat gesagt, auf »German-speaking Jews«. -- Jung Prag sieht Spector wie auch die Dichter der Concordia in vieler Hinsicht verbunden: »The aim of the German-liberal aesthetic of the latter half of the nineteenth century [...] was to supersede the inherent tensions in the Prague German context through an artificial reterritoralization to the safe ground of high German culture; the same strategy is apparent in the neoclassicist poetry of the late nineteenth century and the new romantic and aestheticist trends of the fin de siècle. « (S. 54) Nach Spector geht es also um eine Verdrängung der politischen und sozialen Fragen, die auch Max Brod anstrebt, ein Plädoyer für die reine Kunst, frei von allen Bindungen. »In this respect, the stated program of the Jung-Prag writer Paul Leppin's journal Wir, to which Brod contributed, is not far removed from Brod's in the first issue of Arkadia.« (S. 62) Zur Verdeutlichung zitiert er in einer Anmerkung die wesentlichen Bemerkungen in den Vorworten beider Veröffentlichungen: »Leppin: “Unser einziges Programm ist die Wahrung der Unabhängigkeit von Allem und Jedermann, von jeder Institution, jeder Richtung, jeder Person und jedem Vorurteil,” Wir: Deutsche Blätter der Künste 1 (1906); Brod: “So wie wir nämlich überzeugt davon sind, daß die auf das überirdische hindeutende hymnische Kraft der Dichtkunst keines Nebenwerks und keines Parteiinteresses bedarf, um mit der ihr einwohnenden lauteren Hoheit für die Menschheit wirksam zu sein [...],” Arkadia: Ein Jahrbuch für Dichtkunst 1 (1913).« (S. 259) Ob diese Parallele wirklich zutrifft und ob hier die als 'Jung Prag' bezeichneten Literaten richtig gesehen werden, müsste in einer detaillierteren, auf das Werk der einzelnen Literaten eingehenden Studie untersucht werden. -- Es ist auch zu bemerken, dass weder Paul Leppin noch Victor Hadwiger eine Rolle in der Expressionsmus-Diskussion bei Spector spielen und solche grundlegenden Arbeiten wie Fiala Fürsts Beitrag nicht erwähnt werden. Einzig eine Bemerkung zu Brod deutet auch Leppin und Hadwiger als Expressionisten-Vorläufer an: »[...] Brod's extension of the exaggerated German Prague prose style (especially apparent in the half generation previous – in Paul Leppin and Viktor Hadwiger, for instance) is integral to his new ideological aesthetic. With deep and sentimental coloration, Brod projects outward the “inner experience” of the characters.« (S. 181)
Das Kafka-Handbuch, hg. v. Oliver Jahraus u. Bettina von Jagow (2008), geht überhaupt nicht auf die Vor-Kafka-Generation ein. Weder Wiener noch Hadwiger noch Leppin werden erwähnt, Camill Hoffmann nur in einer kurzen Liste von Pragern, die nach Berlin gingen, aufgenommen. (S. 166)

***

Binder ist in seinen Ausführungen nicht ganz konsequent. Nach seinen Ausführungen zur Concordia schreibt er (Profile, S. 97): »Der Nachwuchs, den dieses konservativ eingestellte Lager hervorbrachte, stand, wie Paul Leppin kritisch anmerkte, zumeist „nur in einer platonischen Beziehung zur Zunft”. Es handelte sich um junge „Kaufleute und Literaturgigerln, die ohne innere Nötigung an die Kunst geraten waren”. Gemeint waren Autoren wie Walther Schulhof oder Paul Porges, aber auch Alfred Guth, Eugen Trager und Richard Wurmfeld, die nach Auffassung Karl Tschuppiks ihre Produkte mithilfe „judenstädter” Kniffe an den Mann zu bringen suchten.« Leppin bezieht sich hier eindeutig auf »Jung-Prag« (siehe das Zitat im Text), Binder aber bezieht es allgemein auf den »Nachwuchs« und schreibt im nächsten Absatz über Jung-Prag (Profile, S. 98): »Als Gegenbewegung zur Concordia hatte sich seit 1895 um den Verein deutscher bildender Künstler in Böhmen die neuromantische Bewegung Jung-Prag gebildet, der mehrheitich Autoren zurechnen, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts oder kurz davor geboren wurden. Zu diesen gehören unter anderem Viktor Hadwiger, Camill Hoffmann, Paul Leppin, Gustav Meyrink, Rainer Maria Rilke, Hedda Sauer und Oskar Wiener.«

***

Auch in den Artikeln »Alt-Prager Künstlerfeste« und »Prager Frühling« benutzt Leppin die Bezeichnung »Jungprager« auf diese allgemeine Weise, nicht den Kreis »Jung-Prag« um Oskar Wiener betreffend. So schreibt er in »Alt-Prager Künstlerfeste«: »Vor mir liegt ein buntes Heft, auf steifem Bütten abgezogen, mit Reimen und Prosa Jungprager Namen. Gusav Meyrink ist mit dabei, Oskar Wiener u.a. Die Titelzeichnung stammt von Hugo Steiner-Prag. Es ist „Die Kralle”, ein Höllenadagio, für das Künstlerfest „In der Hölle” am 16. Jänner des Jahres 1902 im Verein der deutschen bildenden Künstler in Böhmen gedruckt.« Und in »Prager Frühling« steht: »Jung-Prager Dichter, mit Schlapphut und Literaturkrawatten, promenierten gewichtig zwischen ehrfürchtig schauernden Backfischreihen, im Schaufenster der Buchhandlung Neugebauer prangten die grellen Farbenumschläge neuester Frühjahrslyrik, erschienen bei Schuster und Löffler, Berlin.«

***

Freschis nicht ganz zutreffende Anmerkung (1989, S. 43, Anm. 3) stehe hier stellvertretend für ähnliche: »1900-1901 betreute er die Veröffentlichung des Organs der Schriftsteller des Jung Prag: „Frühling”.« Ähnlich ungenau ist die Feststellung, die Freschi anschließt: »In den selben Jahren war er einer der Initiatoren des „Vereines deutscher bildender Künstler in Böhmen.«

***

D. Hoffmann, 1982, S. 125. - Die Tochter von Rudolf Walter (16. April 1885, Leitmeritz - 1. Februar 1950, Florenz) gibt in einem Brief vom 29. Dezember 1971 ein eindrucksvolles Bild ihres Vaters (ausführlicheres Zitat in Leppin-Diss., 1973, Bd. 2, S. 99-101; in der Kurzfassung, S. 187-188): »Er war ein richtiger 'Beau', Naturbursch und zugleich Salonlöwe. Seine Eltern waren Bauern in Leitmeritz in Böhmen. Seine beiden Brüder starben als Kinder an Diphterie, nur er allein hielt die Krankheit aus. Er war schön, groß, blond, blauäugig, von den Damen geliebt, aber auch von den Herren gut gelitten. Er war lustig und wißbegierig, ein charmanter Unterhalter. Als junger Bursch ging er von zuhause weg nach Prag auf die Mal-Akademie, oft hatte er Hunger, und sein Professor erlaubte ihm die Rinde des Brotes zu essen, deren Schmolle damals statt Radiergummi verwendet wurde. Später unterrichtete mein Vater selber im Zeichnen an dieser Akademie, lernte zu dieser Zeit in Prag Paul Leppin kennen. Das war eine lustige Zeit, sagt meine Mutter, die damals dort Bildhauerin wurde, an der gleichen Akademie, und mit dem Schriftsteller Leo Baum, Gustav Meyrink und Richard Teschner (Marionettentheater) herrliche Künstlerabende verbrachte. Sie spielten Kammermusik und gaben cabarettistische Vorstellungen. [...] Nach dem Krieg blieb mein Vater in Wien und war einer der ersten Film-Pioniere mit Graf Sascha Kolowrat (Filmmuseum) in Wien. Mit Holub Seff machte mein Vater als 'Cocl' Lustspiele, 2-Akter, verdiente ernorm und war Direktor der Sascha-Film-Gesellschaft. Später handelte er mit Spielwaren, mit Automobilen, die er selbst aus Hamburg holte, wenn sie (Amilcar) aus Übersee ankamen. Meine Mutter ließ sich scheiden. Die letzte Freundin meines Vaters war eine Americanerin, die in Florenz einen Landsitz kaufte, um mit ihm den Lebensabend zu beschließen. [...]

***

Die Selbstbiographie war von der Redaktion der Deutschen Zeitung Bohemia für ihre Rubrik »«Sudetendeutsche Profile« erbeten worden. Leppin nahm sie später in leicht veränderter Form in seine zweibändige Ausgabe Prager Rhapsodie auf. Bd. 2, S. 88. - Neuausgabe in einem Band, S. 181.

***

Fiala-Fürst, Beitrag, S. 14, sieht es anders und beschreibt (ohne Beleg für das zweite benutzte Adjektiv) Wir als »die 1906 gegründete und bald darauf verbotene Zeitschrift«.

***

Während sich diese Leppin-Stelle eindeutig auf die Literaten der Jahre 1900 bis 1906 bezieht und die erwähnte »neue Generation« gleichzusetzen ist mit den Kreisen um Brod und um Werfel, bezieht sich die ähnlich klingende Stelle in »Prager Literatur vor drei Jahrzehnten« auf »Jung-Prag« (1898-1900). Bei der in diesem Artikel angesprochenen »Boheme« sind die Literaten um Leppin gemeint: »Der Prager Atmosphäre war das Beklemmende genommen und in den nächten Jahrzehnten war es sogar möglich, einer Boheme Raum zu schaffen, die ohne die Sakrilegien der Jung-Prager nicht tunlich gewesen wäre.« -- Selbst Walter Schmitz übersieht den Unterschied und begeht in »Tripolis Praga« eine Ungenauigkeit, wenn er am Schluss des Abschnitts »Wie das Bürgertum die Moderne fand« zwei aus verschiedenen Artikeln stammende Leppin-Zitate in seiner Zusammenfassung kombiniert:

Für 'Jung-Prag' wollte er [d.i. Paul Leppin] rückblickend nur die Mission eines Wegbereiters gelten lassen: „Der übliche Hokouspokus, den sie veranstalteten, fand weder den Applaus des Publikums noch der Presse. [...] Der Prager Atmosphäre war das Beklemmende genommen und in den nächten Jahrzehnten war es sogar möglich, einer Boheme Raum zu schaffen, die ohne die Sakrilegien der Jung-Prager nicht tunlich gewesen wäre. (Leppin, Schriftstellerkolonien, S. 274)

Der erste Teil des Zitats stammt aus dem oben in Gänze zitierten Artikel »Schriftstellerkolonien • VIII • Prag« (1918). Der zweite Teil des Zitats ist aber dem Artikel »Prager Literatur vor drei Jahrzehnten« (1924) entnommen. Beide, wie gesagt, beziehen sich auf »Jung-Prag«, die Gruppe um Oskar Wiener. Die Boheme, die »Jung-Prag« vorbereitete und »die ohne die Sakrilegien der Jung-Prager nicht tunlich gewesen wäre«, ist aber nicht, wie Schmitz insinuiert, die nach-Leppinische Zeit mit Werfel und Brod, sondern die Zeit 1900 bis 1906, also die Zeit der Blätter Frühling und der Hefte Wir, also der Glanzzeit des Kreises um Paul Leppin, die Zeit, die Paul Leppin als Zeit der beginnenden Prager Boheme ansah.

***

Krolop, Zur Vorgeschichte, S. 54 u. Anm.60, S. 77.

***

Fiala-Fürst (Beitrag, S. 134) merkt dagegen an (ohne Beleg): »Obgleich erst 1919 herausgegeben, wurde Leppins erster Roman “Daniel Jesus” bereits im Jahre 1905 verfaßt, so daß die Frage nach der Zugehörigkeit des Romans zum expressionistischen Stil zunächst unmotiviert erscheinen mag. Dank der Vermittlung Else Lasker-Schülers und der Bekanntschaft Leppins mit Herwarth Walden, die seit etwa 1907 währte, war aber “Daniel Jesus” der erste Roman, der in dem frisch gegründeten “Sturm” ab der ersten Nummer im Jahre 1910 in Fortsetzung erschien.« -- Die Studie von Fiala-Fürst, die zugleich nach Angaben im Impressum als Dissertation an der Olmützer Universität 1995 angenommen wurde, enthält auch in der Bibliographie der Primärwerke der einzelnen Autoren zumindest zu Leppin weitere Abweichungen zu der generell akzeptierten Datierung einzelner Werke (S. 235). Es ist unklar, ob neue, undokumentierte Erkenntnisse oder nur Druckfehler vorliegen. Wahrscheinlich handelt es sich um Druckfehler, da selbst Leppins Geburtsdatum falsch angegeben ist. Statt »1875« muss es »1878» heißen (siehe u.a. Leppins Selbstbiographie in der Prager Rhapsodie (Neuausgabe, S. 180). Zu den anderen abweichenden Datierungen: Venus auf Abwegen trägt die Jahreszahl »1920«, nicht »1921«. Das Paradies der Andern erschien ohne Jahreszahl, doch wird im Inseratenteil schon auf das erschienene Buch Die neue Wirklichkeit von Oskar Baum hingewiesen, das im Mai 1921 von Leppin besprochen wurde. Auch liegen Rezensionen des Buchs Das Paradies der Andern von 1921 vor, die alle in den relevanten Leppin-Bibliographien aufgelistet sind (siehe Paul Leppin, 1982). Das Publikatonsjahr ist deshalb wohl ebenfalls mit »1920« und nicht »1922« anzusetzen. -- Bedauerlicherweise werden solche Abweichungen durch eklektisches Vorgehen weitergetragen, so z.B. bei S. Fritz (Entstehung, 2005, S. 219), die in der Bibligraphie der Primärtexte zu Daniel Jesus ebenfalls nur die Ausgabe von 1919 anführt (die damit als Erstausgabe gesehen werden muss). - Zu weiteren Angaben zu Leppins Werk siehe u.a. D.O.Hoffmann, 1973 u. 1982.

***